von der Autorin
Ein kleiner Raum. Zwei junge Männer treten ein und sehen sich suchend um. Kurz darauf kommt eine junge Frau dazu und die drei – es sind die Hauptfiguren unserer Geschichte – begrüßen sich.
Tamina: „Hi Leute, wie geht’s?“
Sadwyn: „Passt schon. Außer, dass ich hierfür extra vom Surfen anrücken musste. Dabei waren die Wellen gerade perfekt. Was wird das jetzt eigentlich genau?“
Arwan: „Eine Art Interview. Wir sollen uns wohl kurz vorstellen.“
Tamina: „Wem denn?“
Arwan: „Irgendwelchen Lesern. Frag mich nicht.“
Tamina: „Tja, Pech gehabt – hab ich nämlich gerade. Also, was sollen wir diesen Lesern genau erzählen?“
Sadwyn: „Ich ahne, worauf Arwan hinauswill. Meinst du so im Stile von: ‚Hi, mein Name ist Sadwyn Davies. Ich bin echt alt und ach ja, ich bin tot. Noch Fragen?‘“
Arwan: „Ich würde es jetzt nicht ganz so direkt machen, aber sonst, ja.“
Sadwyn: „Und unsere Interviewpartner... sind die unsichtbar oder noch gar nicht erschienen?“
Arwan: „Vermutlich eher Letzteres. Obwohl ich als Magier auch Option eins nicht zu einhundert Prozent ausschließen kann.“
Tamina: „Werden bestimmt gleich auftauchen. Da können wir in der Zwischenzeit auch weiter quatschen.“
Sadwyn: „Von mir aus. Wenn ich schon mal da bin. Wollen wir uns setzen? Da drüben ist eine Couch. Nur schade, dass sie keinen Sessel haben.“
Tamina: „Bloß, weil du in deinem Haus in Cardiff ständig in deinem Lieblingssessel rumlümmelst, heißt das nicht, dass jeder sowas besitzen muss.“
Sadwyn: „Ach komm schon, ich bin fast neunzig, da werde ich mir doch mal ein bisschen Luxus gönnen dürfen.“
Tamina: „Das solltest du im Interview so aber nicht sagen. Immerhin siehst du aus wie neunundzwanzig. Und wenn du im nächsten Satz erwähnst, dass du unglaublich gerne Surfen gehst, raubst du ihnen wahrscheinlich den letzten Nerv.“
Sadwyn: „Und da reden wir hier nur von mir. Stell dir mal vor, sie fragen Arwan zu dessen Leben aus. Was soll der denn da sagen? ‚Hallo, mein Name ist Arwan ap Rhys ap Arawn Llewellyn und schon an diesem Namen sollte deutlich werden, dass dieses Interview länger dauern kann. Ich bin ein mächtiger Zauberer, der aus einer einflussreichen Magierfamilie kommt. In meiner Freizeit bin ich als Geisterjäger aktiv und jage den gemeinen Untoten von nebenan. Ach ja, und ich bin Bassist in einer Mittelalterband, was mir aber keiner abnimmt, weil ich dort so krass Under Cover gehe, dass mich niemand mehr erkennt. Außerdem bin ich ein to-ta-ler Besserwisser und habe drei Doktortitel und...‘“
Arwan: „Lass gut sein, Wynn. Und was heißt hier bitte Under Cover? Das ist doch kein Tarnaufzug!“
Tamina: „Aber du musst schon zugeben, dass die Veränderung... einschneidend ist. Ich meine, von zweiundzwanzig mit kinnlangen, schwarzen Haaren zu etwa fünfunddreißig mit kurzen, sandfarbenen Haaren – da musst du erstmal drauf kommen. Hast du dich von Sadwyn inspirieren lassen?“
Arwan: „Du meinst, weil er so strahlend blonde Locken hat? Eher weniger. Ich hab nur was Unauffälliges gesucht.“
Sadwyn: „Das ist dir ja wunderbar gelungen. Sag mal, kommt hier heute noch jemand? Ich würde dann schon gerne wieder Surfen gehen.“
Tamina: „Dass ich nicht lache, Wynn. Ein Vandraren in Zeitnot? Willst du mich veräppeln?“
Sadwyn: „Auch das solltest du in dem Interview so vielleicht nicht unbedingt formulieren... Sonst muss ich noch lang und breit erklären, was denn bitte ein Vandraren ist. Und darauf kann ich getrost verzichten.“
Arwan: „Aber so schwer ist das doch nicht. Das ist schlichtweg der schwedische Begriff für das Wort ‚Wanderer‘."
Sadwyn: „Und nebenbei bemerkt die Bezeichnung für eine Gruppe unsterblicher Wesen, die paradoxerweise aus medizinischer Sicht tot sind. Versuch mal, das einem halbwegs rational denkenden Menschen zu vermitteln.“
Arwan: „Hab ich. Funktioniert nicht.“
Sadwyn: „Eben. Deshalb jetzt mal im Ernst: Was können die uns denn überhaupt so großartig fragen? Wir möchten der Welt unsere Geschichte erzählen. Sollen wir jetzt rumposaunen, wie toll wir unsere eigene Story finden?“
Arwan: „Mach dir da mal keinen Kopf. Obwohl ich ehrlich sagen muss, dass ich sie an manchen Stellen schon reichlich schnulzig finde. Und ich weiß noch nicht so genau, was ich davon halten soll, dass mein Name in gefühlt jedem zweiten Satz auftaucht.“
Tamina: „Ich finde schon, dass man einiges aus der Geschichte lernen kann. Immerhin geht es darum, mutig zu sein und Neues zu wagen. Und die Magie in dieser Welt zu entdecken. Außerdem kommt dein Name viel zu selten in der Geschichte vor, wenn du mich fragst, Arwan.“
Sadwyn: „Also, wenn ich hier mal meinen Senf dazugeben darf; ich finde, ein paar Seiten mehr übers Surfen hätten schon drin sein können. Einen Preis als bester Surfer-Guide des Jahres gewinnt das Ding garantiert nicht. Und ihr seid sicher, dass unsere Interviewpartner nicht doch unsichtbar sind?“
Arwan: „Sicher. Aber wir müssen eigentlich auch langsam los. Ich darf dich doch daran erinnern, dass Tamina und ich nachher gleich auf Mission müssen, bevor ihre Eltern von Arbeit nach Hause kommen.“
Sadwyn: „Wie konnte ich das nur vergessen? Über unsere liebe Tamina hier haben wir ja noch gar nicht geredet. Durchschnittsschülerin und furchtlose Geisterjägerin in Einem. Obwohl dein Satz schon göttlich ist, Arwan. Ihr geht gleich gruselige, und bisweilen hochgradig gefährliche, Untote einkehren und alles, worum du dir Sorgen machst, ist, dass die Eltern deiner Partnerin Wind davon bekommen könnten.“
Arwan: „Hey, das stimmt gar nicht! Du weißt, wie ich zu der Sache stehe. Und, dass ich mir ständig Sorgen mache.“
Sadwyn: „Ja. Um Gott und die Welt. Wissen wir. Aber immerhin kannst du ja ihre Gedanken hören und Tamina mit deiner Gabe heilen, falls sie sich verletzt.“
Arwan: „Trotzdem. Also ich denke, hier kommt keiner mehr. Gehen wir wieder?“
Tamina: „Wir sollten aufbrechen. Ich hab meinen Eltern gesagt, dass ich bei Freunden bin, also müssen wir uns deswegen schon mal keinen Kopf machen. Aber vor der Mission will ich nochmal kurz in den Québec und nach Dakar müssen wir auch noch.“
Sadwyn: „Jetzt bin ich verwirrt. Ich dachte, eure Mission findet irgendwo in Deutschland statt?“
Arwan: „Du weißt doch, dass wir im kanadischen Québec eine geheime Hütte haben, in der unsere Waffen lagern. Und ja, unsere Mission findet in Deutschland statt, aber da wir noch nie in der Nähe unseres heutigen Zielortes waren, können wir uns nicht einfach dahin zaubern, sprich translokalisieren. Das heißt...“
Tamina: „... wir müssen nach Dakar, wo unsere Geisterjägerschiffe vor Anker liegen. Im Hafen der Insel Gorée. Haben wir dir doch erzählt. Mit denen fliegen wir dann zu unserer Mission.“
Sadwyn: „Ist bekannt. Ich muss nur immer wieder darüber schmunzeln, was sich eure Vorgesetzten im Hauptquartier Lustiges ausdenken, um euch zu beschäftigen.“
Tamina: „Frag nicht... Helios und Stratos sind schon manchmal...“
Arwan: „... eigenartig. Aber man sollte sie nie unterschätzen, die beiden können hochgradig...“
Tamina: „... gefährlich sein.“
Sadwyn: „Hört auf! Davon bekomme ich Kopfschmerzen! Also, wenn ihr nichts dagegen habt, ich bin weg. Ich translokalisiere mich jetzt auf direktem Weg zurück nach Hawaii und dafür brauche ich zum Glück kein fliegendes Schiff.“
Arwan: „Dann viel Spaß. Können wir uns heute Abend nochmal in Cardiff treffen? Ich bin später noch einmal da, um in der Bibliothek etwas zu recherchieren.“
Sadwyn: „Klar. Was würdest du nur ohne die Bibliothek in meinem Elternhaus machen? Du wärst aufgeschmissen! Was denkst du, wie lange eure Mission dauert?“
Arwan: „Möglich. Und wie immer, keine Ahnung.“
Sadwyn: „Da drücke ich euch mal die Daumen. So, ich bin weg.“
Arwan: „Dann ist es wohl an uns, ebenfalls aufzubrechen. Bist du bereit?“
Tamina: „Keineswegs. Lass uns loslegen!“
von Tamina
Kaum, dass wir in unserer Hütte im Québec gelandet waren, gingen wir noch einmal schnell unsere Ausrüstung durch. Eigentlich hatten wir die ja immer dabei, wenn wir auf Mission gingen, doch wir prüften lieber vorher alles nochmal durch. Da waren natürlich unsere Zauberstäbe. Dann hatte ich noch einen Bogen und Arwan zwei Dolche. Ach ja, und er trug immer ein paar Medikamente bei sich, um mich im Zweifelsfall versorgen zu können. Auch, wenn er eigentlich eine Gabe besaß, um mich mittels Magie zu heilen, ging Arwan lieber auf Nummer sicher. Kurz, bevor wir aufbrachen, sah ich mich noch einmal seufzend in unserer Hütte um. Der kleine Wohnbereich, die Kochnische und dann noch unsere beiden minimalistischen Zimmer. Irgendwie fand ich es gemütlich. Doch bei dem Gedanken an das Folgende verflog dieses Gefühl auf einen Schlag.
„Wir müssen“, sagte Arwan seufzend und hielt mir die Hand hin.
Ich nahm sie und wir translokalisierten uns nach Dakar. Wie immer, wenn ich unsere beiden Schiffe – zwei gigantische Windjammer – erblickte, musste ich schwer schlucken. Ich fand es noch immer überwältigend, dass eine einzelne Person diese gigantischen Gefährte unter Kontrolle halten konnte. Ich seufzte und ging auf mein Schiff, die Conqueror of the Winds, während Arwan zu seinem, der Wavebreaker, lief.
Bereits kurze Zeit später segelten wir aus dem Hafen. Und unsere Mission begann...
Ich rannte durch den Wald. So langsam hasste ich die Wälder echt – nicht die Bäume, die waren klasse. Die produzierten ja Sauerstoff und so. Was ich dagegen hasste, waren die blöden Untoten, die offenbar immer in irgendwelchen dämlichen Wäldern Zuflucht suchten. Wieso war ich nochmal den Geisterjägern beigetreten? Ach ja, weil mir mein Leben sonst zu langweilig gewesen wäre.
„Kannst du dich gerade bitte ein kleines bisschen weniger selbst hassen und ein kleines bisschen schneller laufen?“ fragte Arwan neben mir. Anstelle einer Antwort legte ich noch ein paar Schritte zu.
Es war helllichter Tag, was schon mal eine große Verbesserung zu vielen unserer früheren Missionen war. So konnte ich nämlich wenigstens sehen, wo ich hinlief. Der Nachteil war, dass ich auch den netten Untoten sehen konnte, der uns verfolgte. In einem Wald könnte man ja denken, es wäre ein untoter Jogger oder Pilzsammler, der uns dann mit seinem Pilz-Almanach beziehungsweise seinen Nordic-Walking-Stöcken bedrohte. Leider nicht. Anstelle dessen spurtete ein übelgelaunter Bauer aus dem sechzehnten Jahrhundert hinter uns her.
„Und der Wald hat gefälligst Allmendeland zu bleiben!“ brüllte er uns zu und schwang im Laufen eine Sense bedrohlich in seiner Hand. Offensichtlich wollte er, dass der Wald... bitte was?
„Nicht, dass ich deine Meinung nicht teile“, rief mein Geisterjägerpartner mit dem Doktortitel in Geschichte zurück, „aber dafür kommst du etwa fünfhundert Jahre zu spät! Der Bauernkrieg ist seit ein paar Jahren vorbei, weißt du?!“
Doch der gruselige Pseudo-Sensenmann hinter uns jagte uns unbeirrt weiter, er musste uns wohl für eingebildete Adlige halten. Dann reichte es Arwan und er blieb abrupt stehen. In einer einzigen, geschmeidigen Bewegung drehte er sich zu unserem Verfolger um und zog seine letzte magische Waffe: seinen Zauberstab. Seine beiden Dolche steckten bereits in Baumstämmen irgendwo weiter weg. Zu diesem Zeitpunkt waren wir nicht schnell genug gewesen, den Bauern einzukehren und er hatte sich befreit. Nur um dann postwendend auf mich loszugehen. Na danke. Was auch der Grund für unsere unfreiwillige Sporteinlage eben war. Arwan verwandelte nun binnen eines Wimpernschlags seinen Stab mit den saphirblauen Zeichen darauf in ein Schwert, das ebenfalls diese Zeichen auf der Klinge trug. Es war eine besondere Fähigkeit seines Zauberstabs und hing mit ebenjenen saphirblauen Zeichen zusammen. Schon hatte er das Schwert auf den Bauern zugeworfen, der verdutzt stehengeblieben war. Doch er hatte anscheinend ziemlich gute Reflexe, weshalb er die Klinge mit seiner Sense ablenken konnte, bevor sie ihn berührte. Danach warf er selbst seine Waffe – natürlich genau auf mich – zu. Auf wen sonst?
Ich hechtete zur Seite, um ihr auszuweichen, und schaffte es um Haaresbreite. Dabei legte ich eine wenig elegante Hechtrolle hin, die wohl dem Namen nach mehr Ähnlichkeit mit einem an Land zappelnden Fisch als einer anmutigen Rolle hatte. Als logische Folge dessen hörte ich nur noch ein lautes und reichlich deplatziertes Knacken, als irgendein Knochen in meinem linken Arm gekonnt den Geist aufgab. Ich konnte einen Aufschrei nicht unterdrücken und blieb für einen Moment regungslos liegen. Ich spürte Arwans Schreck deutlich, doch ich wusste, dass er mir jetzt nicht helfen konnte und versuchte, die Zähne zusammenzubeißen. Dann kam mir ein Gedanke: der Bauer achtete in diesem Moment nur auf mich, nicht aber auf den nun waffenlosen Arwan. Also zückte ich mit meiner rechten Hand – und einem schmerzverzerrten Gesicht – meinen eigenen Zauberstab. So könnte ich nie und nimmer zielen. Wenn ich versuchte, den Bauern aus dieser Position heraus einzukehren, würde mein Zauber glatt danebengehen, das war mir klar. Aber ich kannte jemanden, der eine realistische Chance hatte.
Fang!, dachte ich und warf Arwan ohne zu zögern meinen wunderschönen Zauberstab zu.
Er fackelte nicht lange und ich ahnte, dass er in Gedanken den Spruch, mit dem wir Untote einkehrten, sprach. Dann emittierte mein Zauberstab einen gleißenden Lichtblitz und binnen weniger Sekunden war der Bauer im wahrsten Sinne des Wortes Geschichte. Ich stand mühsam auf und klopfte mir mit der rechten Hand den Staub von der Kleidung – mein linker Arm hing währenddessen irgendwie seltsam an meiner Seite herab. Und tat höllisch weh. Zum Glück war der Waldboden trocken gewesen. Arwan gab mir meinen Zauberstab zurück und machte sich daran, seine eigene Ausrüstung einzusammeln.
Sobald unsere Waffen gesichert waren, begutachtete er meinen lädierten Arm und seufzte leise. Dann strich er sanft darüber und ich spürte, wie der Schmerz endlich nachließ. Das waren die Momente, in denen ich mich ehrlich fragte, was mich noch bei den Geisterjägern hielt.
Als mein Arm wiederhergestellt war, musterte Arwan mich vorsichtig und fragte: „Hast du noch weitere Verletzungen?“
Ich schüttelte den Kopf und spürte, wie er sich merklich entspannte.
Als wir uns langsam auf den Weg zu unseren Windjammern machten, die wir am Waldrand geparkt hatten, sah ich Arwan schief an und fragte: „Was hat der Typ eigentlich gerade vor sich hingefaselt? Das mit dem Alm-Ende?“
Arwan blickte mich erst irritiert an; doch dann verstand er. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er sagte: „Du meinst die Allmende?“
Ich nickte fragend und er fuhr fort: „Das war früher so eine Art Gemeindeland des Dorfes, das allen gehörte. Auch der Wald war ein Teil davon. Doch zu Lebzeiten unseres armen Bauern hier erhoben mehr und mehr Adlige Ansprüche auf dieses Land, beziehungsweise die Rechte, es zu nutzen.“
Ich sah ihn schief an und folgerte dann: „Und das hat natürlich den Dorfbewohnern nicht wirklich gepasst, oder?“
Arwan schüttelte verneinend den Kopf. „Obwohl der Bauernkrieg – so wird er zumindest zumeist bezeichnet – natürlich vielfältige Ursachen hatte, war der Ruf der Bauern nach mehr Freiheit und Recht ein Aspekt davon.“
Ich ließ seine Worte auf mich wirken. Wir hatten mittlerweile unsere Schiffe wieder erreicht und zauberten uns an Bord.
Als wir bereits – unsichtbar für andere Augen natürlich – auf dem Rückweg nach Dakar waren, sagte ich leise: „Ich kann mir das gar nicht so recht vorstellen. Wie das Leben früher gewesen ist…“
Arwan sah mich schief an und erwiderte: „Mir geht’s aber in manchen Momenten auch so, obwohl ich schon so vieles erlebt habe. Dann denke ich mir, dass ich einiges davon wohl kaum glauben könnte, wenn ich es nicht selbst gesehen hätte.“
Nachdem wir unsere Schiffe vor der Gorée vertäut hatten, machten wir noch einen kurzen Abstecher bei Sadwyn, der gerade vom Surfen wieder zurückkam. Die Mission hatte im Endeffekt doch nicht so lange gedauert und so hatte ich nun Zeit. Als wir Wynn die kuriose Geschichte erzählten, staunte er, wie so oft, nicht schlecht...
von Arwan
Nachdem Tamina uns eine Gute Nacht gewünscht und sich wieder nach Hause translokalisiert hatte, saßen Sadwyn und ich noch einige Minuten lang schweigend da. Eigentlich hatte ich für ein paar Recherchen schon längst wieder in der Bibliothek sein wollen, doch ich hatte das sichere Gefühl, dass Sadwyn über ein ernsthaftes Thema sprechen wollte. Was ziemlich ungewöhnlich für ihn war. Aber da ich sorgsam darauf achtete, mich nicht heimlich in seine Gedanken zu schleichen, hatte ich keine Ahnung, was hinter diesen strahlend blauen Augen vor sich ging. Schließlich blickte mein Cousin mich an und begann langsam zu sprechen.
„Weißt du“, begann er und rutschte unruhig in seinem Lieblingssessel hin und her, genau dem, über den sich Tamina heute lustig gemacht hatte, „obwohl ich nur zu gut verstehe, warum du den Geisterjägern beigetreten bist, glaube ich, habe ich noch immer nicht wirklich verstanden, wieso du jetzt noch ein aktives Mitglied bist. Ich meine, Tamina ist auf euren Missionen einer konstanten Gefahr ausgesetzt. Und abgesehen davon – du bist ein Vandraren. Ich meine, du bist selbst tot. Findest du es nicht... seltsam, dass ausgerechnet du andere tote Leute einkehrst?“
Ich seufzte und blickte aus dem Fenster, während ich versuchte, eine Antwort auf all diese Fragen zu finden. Es war nicht so, als ob ich sie mir nicht selbst schon gestellt hätte, ziemlich oft im Übrigen. Und dennoch zögerte ich nun, da mein Cousin das Thema anschnitt. Nach ein paar Augenblicken wanderte mein Blick zu einem eindrucksvollen Gebäude – dem Insole Court – der stolz und aufrecht in der Ferne aufragte. Und schon seit so vielen Jahren dort stand...
Ich seufzte erneut und schaute wieder zu meinem Cousin, der mich seinerseits musterte. Dann holte ich tief Luft und sagte: „Das sind ziemlich viele Fragen, obwohl ich sie alle nur zu gut verstehen kann. Die meisten kann ich selbst nicht mit einhundertprozentiger Sicherheit beantworten. Aber ich will zumindest versuchen, dir einige, so gut wie möglich, zu erklären.“
Ich wartete noch einen Moment, um meine Gedanken zu ordnen, bevor ich fortfuhr. „Es klingt seltsam, warum gerade jemand, der technisch gesehen tot ist, seine Zeit damit verbringt, andere tote Leute zu jagen. Aber wie du sicherlich weißt, Wynn, macht es einen gewaltigen Unterschied, ob man tot ist oder untot. Wir waren nie auf dieselbe Art tot, wie sie es waren. Wir sind nie endgültig gestorben und dann vom Tod wiederauferstanden, so wie sie es getan haben. Und obwohl wir beide nicht wissen, was – oder besser gesagt, wer – uns zu dem gemacht hat, was wir jetzt sind, gibt es eine Sache, die ich dir mit absoluter Sicherheit sagen kann. Ich will nicht, dass das bestimmt, wer ich jetzt bin. Ich will mein eigenes Leben führen, mein eigenes Schicksal finden, selbst, wenn mein Herz nicht mehr schlägt und ich nicht mehr altere. Weißt du eigentlich, warum ich mich vor all den Jahren dazu entschieden habe, Geschichte zu studieren?“
Wynn grinste mich an und antwortete: „Weil du auf altes Zeug stehst?“
Ich musste mir ebenfalls ein Grinsen verbeißen. „Bleib ernsthaft. Nein, der wahre Grund ist, dass ich unsere Geschichte verstehen wollte – meine Geschichte. Wo meine Vorfahren und ich herkommen. Ich wandere schon so lange über diese Erde, doch je mehr ich davon zu sehen bekomme und je mehr ich über die Menschheit lerne, desto weniger habe ich das Gefühl, irgendetwas davon zu verstehen. Vielleicht ist es gut, dass das menschliche Leben auf eine gewisse Zeitspanne begrenzt ist, obwohl viele Leute das wohl anders sehen. Was ich sagen will, ist, dass jeder Tat – egal, wie wichtig oder wie trivial – eine Konsequenz folgt. Und ich wollte genau dieses Muster verstehen. Oder, um es in größeren Zusammenhängen zu formulieren – unsere Geschichte definiert, wer wir heute sind. Selbst, wenn die Menschen das scheinbar nicht sehen wollen und lieber dem ein oder anderen Prominenten in den sozialen Medien hinterherrennen – so wird selbst das Konsequenzen haben. Sie werden vielleicht nicht die Welt verändern – aber sie werden da sein.“
„So weit, denke ich, kann ich dir folgen. Aber was hat sich in letzter Zeit verändert?“, fragte Sadwyn. „Ich habe so ein Gefühl, dass, um es mit deinen Worten zu sagen, du nicht nur das alles – darf ich es als einen Kreis bezeichnen? – verstehen willst. Sondern viel eher, dass du, anstelle ihn nur zu verstehen, dass du diesen Kreis brechen willst. Stimmt das so?“
Irgendwie schien mein Cousin mich besser zu verstehen, als ich gehofft hatte, auch wenn mir sein noch immer verwirrter Gesichtsausdruck etwas anderes mitteilte. „Du hast erstaunlicherweise Recht, Wynn“, gab ich deshalb zurück, „Ich will meinen eigenen Kreislauf des Lebens brechen. Mir dämmert langsam, dass ich in der Vergangenheit wortwörtlich wirklich immer nur in der Vergangenheit gelebt habe. In meiner eigenen Vergangenheit. Ich habe immer nur zurückgeblickt. Ich habe stets über den Verlust meiner Familie getrauert. Über den Verlust guter Freunde. Du kennst die Geschichte. Aber vor Kurzem, vielleicht erst, seit ich den Geisterjägern beigetreten bin und so viele Untote getroffen habe, die genauso waren, wie ich – die immer in der Vergangenheit stehengeblieben und nie weitergegangen sind – da verstand ich, dass ich auch einen Blick in die Zukunft werfen sollte. Dass es Zeit ist, neue Ziele und Träume zu finden und meinem Dasein eine neue Richtung zu geben. Sogar Pläne für die Zukunft können die Gegenwart verändern, wusstest du das?“
„Ich kann es mir vorstellen“, sagte Sadwyn. Dann grinste er schalkhaft. „Das scheint aber eine große Menge Weisheit zu sein, die du da in so kurzer Zeit gesammelt hast. Ich frage mich, wo du die herhast.“
Ich grinste ihn an. „Von dir und deinen endlosen Geschichten übers Surfen ganz sicher nicht“ antwortete ich und mein Cousin lachte.
„Bist du dir da sicher?“, fragte er, noch immer grinsend.
„Das ist eines der Dinge, derer ich mir absolut sicher bin.“
Ich richtete mich auf und kam auf unser vorheriges Thema zurück. „Um die ganze Geschichte abzukürzen“, sagte ich, „ich habe endlich verstanden, dass weder nur der Fokus auf die Vergangenheit, noch der Zukunft ein vollständiges Bild der Gegenwart erzeugen kann. Man muss eine Balance finden. Und wie du weißt, versuche ich beständig, mich selbst zu ergründen, und herauszufinden, wer ich eigentlich bin. Vor Kurzem jedoch musste ich lernen, dass es auf diese Frage vielleicht nie eine finale Antwort geben wird. Menschen verändern sich, und obwohl ich tot bin, verändere auch ich mich.“
„Du hast dich sehr verändert, selbst wenn du es vielleicht nicht so mitbekommen hast“, bestätigte Sadwyn. „Es ist nicht nur deine Augenfarbe oder der Fakt, dass du ein Geisterjäger bist. Dein ganzes Verhalten ist irgendwie... lebendiger geworden. So, als ob du nicht mehr die ganze Zeit verzweifelt versuchen würdest, dein Rad des Lebens zurückzudrehen. Ich hoffe nur, dass es auch so bleibt.“ Bei seinen letzten Worten wurde sein Gesichtsausdruck wieder etwas besorgter und er seufzte.
Ich konnte ebenfalls ein leichtes Seufzen nicht unterdrücken, als ich antwortete: „Ich weiß nicht, was die Zukunft bringen wird. Ich kann nur dasselbe wie sonst auch tun: auf das Beste hoffen.“
Sadwyn nickte. „Dann will ich mit dir hoffen.“
Ich nickte und spielte geistesabwesend mit dem ledernen Armband an meinem Handgelenk. Und obwohl ich nach wie vor versuchte, seine Gedanken zu ignorieren, war ich mir sicher, dass Sadwyn und ich in diesem Moment beide an unsere junge Freundin dachten. Tamina. Und uns fragten, was ihr die Zukunft wohl bringen würde. Oder was sie im Moment eigentlich gerade tat, denn ich war mir ziemlich sicher, dass sie nicht tief und fest schlief, wie sie es eigentlich hätte tun sollen. Ich hatte eher so ein unbestimmtes Gefühl, dass sie irgendwo draußen im Freien war. Wieso nur?
von Tamina
Es war Nacht. Ich saß schon eine ganze Weile draußen im Garten meines Elternhauses und blickte hinauf zu den Sternen, während ich an dem ledernen Armband an meinem Handgelenk herumzupfte. Zum Glück war die Mission heute glimpflich verlaufen. Nur mein Arm hatte etwas gelitten. Ich strich vorsichtig mit der anderen Hand darüber und erschauderte, als ich daran zurückdachte. Im nächsten Moment musste ich schmunzeln, als ich Sadwyns Reaktion auf unseren Bericht vor meinem inneren Augen sah. Der Gute war immer so überrascht, wenn wir von unseren Missionen berichteten, dass es fast schon niedlich war. Dabei sollte man meinen, er als unsterblicher Vandraren, hätte schon alles gesehen. Aber offenkundig war dem nicht so.
Ich seufzte und blickte hinauf zu den vielen Sternen. Da heute Nacht Neumond war, schienen sie besonders hell zu leuchten und ich konnte sogar ihre verschiedenen Farben erahnen. Es war eine milde Nacht und ich saß nur in meinem T-Shirt und kurzen Hosen auf der Schaukel meiner kleinen Schwester Mia. Ich sah mich um und mein Blick suchte die nähere Umgebung ab. Es war wirklich dunkel hier, in unserer kleinen Siedlung im Erzgebirge, direkt am Rande von Nirgendwo (und mit Aussicht auf das Niemandsland). Doch ich mochte es hier. In unserem Garten standen ein paar hohe, alte Bäume, die sich nun sanft im Nachtwind wiegten. Dabei gaben sie ein leichtes Rauschen von sich. Ich blickte mich weiter um. In der Ferne, jenseits unseres Gartenzauns, lag ein großes Feld. Aktuell weidete eine Kuhherde darauf und ich meinte, ganz leise Kaugeräusche zu hören. Das ließ mich schmunzeln. Schließlich glitt mein Blick zu meinem Elternhaus selbst. Die Fenster waren alle dunkel, weil meine Eltern und meine kleine Schwester schon lange schliefen. Kein Wunder, es war ja schon nach dreiundzwanzig Uhr. Wenn meine Eltern wüssten, was ich hier draußen tat... Beinahe hätte ich leise angefangen, zu lachen. Was sie wohl sagen würden, wenn sie erfuhren, dass ich eine Geisterjägerin war?
Ich dachte daran zurück, wie ich meinen Weg zu dieser Vereinigung gefunden hatte. Vor meinem Beitritt zu den Geisterjägern hätte ich es niemals für möglich gehalten, dass es Magie und Zauberer und all das überhaupt gab. Und nun... war ich selbst eine Jägerin, die Untote einkehrte. Dabei war ich noch gar nicht so lange dabei, auch wenn die Zeit rasend schnell vergangen war, seit ich Arwan auf dem Konzert seiner Band getroffen hatte. Nur, dass ich damals noch der festen Überzeugung gewesen war, dass er eigentlich Alex heißen würde und um einiges älter war, als seine zweiundzwanzig Jahre. Obwohl... genauer betrachtet, war er ja tatsächlich auch um einiges älter, als zweiundzwanzig. Sogar um einiges älter, als die fünfunddreißig Jahre, auf die ich ihn bei unserem Treffen in der Klosterruine geschätzt hätte. Dieser Abend hatte mein Leben verändert.
Die Erinnerungen daran gingen mir durch den Kopf und ich lächelte, als ich sie erneut vor meinem inneren Auge sah: Es ist eine warme Frühsommernacht und die Atmosphäre prickelt vor Magie. Einige wenige fluffige Wolken ziehen langsam über den Himmel, während die untergehende Sonne sie in ein wunderschönes Farbspektrum taucht. Eigentlich war für heute Abend ein Gewitter angekündigt gewesen und so bin ich erleichtert zu sehen, dass die Vorhersage nicht eingetroffen ist. Um mich herum sind viele Leute, manche von ihnen in mittelalterlicher Tracht. Das Konzert selbst ist eine dieser einzigartigen Erfahrungen, von denen man sofort weiß, dass man sie für immer im Herzen und in Erinnerung behalten wird. Musik erfüllt die Luft und für den Bruchteil einer Sekunde hält die Welt inne, um all den Erinnerungen, die in diesem Moment wiedererlebt und all den Träumen, die geboren werden, zu lauschen. Langsam zieht die Dämmerung herauf und die ersten Sterne erscheinen am Himmel.
Während der Pause dann war Alex – ich meine Arwan – aus heiterem Himmel vor mir aufgetaucht, nachdem ich mich in den Ruinen des Klosters verirrt hatte. Er hatte mir eine rubinrote Kugel in die Hand gedrückt und ich hatte keinen blassen Schimmer gehabt, was ich denn bitte damit sollte. Es hatte dann noch eine kleine Weile gedauert, bis ich schließlich erfahren hatte, dass ich ausgewählt worden war, den Geisterjägern beizutreten. Ich konnte mich noch ganz genau daran erinnern, wie sehr ich damals mit mir gehadert hatte, welche Entscheidung ich treffen sollte. Aber da ich nun heute erst auf einer Mission gewesen war, war wohl offensichtlich, wofür ich mich schlussendlich entschieden hatte. Ich war nur froh, dass Arwan sich dazu entschlossen hatte, ebenfalls den Geisterjägern beizutreten, um mein Partner zu werden und mir bei meinen Missionen beizustehen. Obwohl ich ja schon reichlich geschockt gewesen war, als ich ihn ohne Vorwarnung plötzlich in seinem richtigen Erscheinungsbild vor mir hatte stehen sehen. Um ehrlich zu sein, war ich so geschockt gewesen, dass ich prompt in Ohnmacht gefallen war.
Ich seufzte erneut und strich mir eine Strähne meines braunen Haares aus den Augen. Dabei dachte ich daran, was wir nicht alles schon erlebt hatten. Wie Arwan – mit Verstärkung seines Cousins Sadwyn, den ich kurz darauf kennengelernt hatte – mir seitdem heimlich im walisischen Cardiff das Zaubern beibrachte... Wenn ich das irgendwem erzählen würde, das würde mir doch kein Mensch glauben! Bei diesem Gedanken musste ich schmunzeln. Jedenfalls so lange, bis sich drängend die Überlegung in meinen Kopf schob, dass ich so auch vor meinen Freunden – allen voran meiner besten Freundin Marie – einen ganzen Haufen Geheimnisse zu bewahren hatte. Und das bereitete mir gelegentlich schon ganz schön Bauchschmerzen. Noch ahnte meine beste Freundin nichts von meinem geheimen Leben, aber ich hatte Angst davor, dass sie es eines Tages herausfinden würde...
Nachdem ich noch ein paar Minuten auf der Schaukel meiner Schwester gesessen hatte, spürte ich, wie ich zunehmend immer müder wurde. Aber das war ja auch kein Wunder, es war schließlich ein langer und ereignisreicher Tag gewesen... Doch ich haderte mit mir, nach drinnen zu gehen. Ich genoss diese Zeit allein hier draußen. Die Nachtluft war frisch und half mir, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Ich hatte das Gefühl, dass mir diese Zeit half, mich selbst wieder zu erden. Ich blickte mich noch einmal um und betrachtete die Welt, die ich kannte (auch, wenn ich im Dunkeln nicht viel sehen konnte). Wie sie friedlich im Schlaf versunken war. Und wie dafür eine ganz neue Welt erwachte. Ich konnte nur ahnen, wie viele kleine Tiere gerade geschäftig hier umherwuselten.
Plötzlich ließ mich ein seltsames Geräusch herumfahren. Es klang fast wie ein Knurren. Ich drehte mich abrupt um und es hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre vor lauter Schreck von der Schaukel aufgesprungen und hätte meinen Zauberstab, den ich ständig bei mir trug, gezogen. Ich sah mich um, während sich mein Herzschlag beschleunigte. Doch ich konnte nichts entdecken. Was war das nur gewesen? Oder hatte ich mir das Geräusch vielleicht nur eingebildet? Nein, da war es wieder! Direkt bei der Konifere!
Ich stand langsam auf und näherte mich der Pflanze. Kurz bevor ich sie einmal umrundet hatte, entdeckte ich schließlich den Urheber der seltsamen Knurrlaute und atmete erleichtert auf. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich die ganze Zeit die Luft angehalten hatte. Vor mir im Gras saß ein kleiner Igel. Wir hatten des Öfteren Igel in unserem Garten und so war ich mir sicher, dass ich diesen hier schon einmal gesehen hatte. Bei genauerer Betrachtung war es ein recht kleines Tier, das bestimmt noch ziemlich jung war. Der Igel musterte mich abwägend, während ich ihn meinerseits ansah. Nach einem kurzen Moment drehte er sich um und lief über die Wiese zu unseren hohen Tannen. Schließlich verschluckte ihn die Nacht. Kurz konnte ich es noch im Gebüsch rascheln hören, doch dann verklang auch dieses Geräusch und es kehrte wieder Stille ein. Ich richtete mich vollends auf und streckte mich. Während ich erneut nach oben zu den Sternen blickte, konnte ich nur mit Mühe ein Gähnen unterdrücken. Es war wirklich ein langer Tag gewesen. Es wurde Zeit, dass auch ich nach drinnen ging.
Just in diesem Moment registrierte ich eine Bewegung über mir. Ein kleiner Papierzettel kam auf mich zugeflogen und ich war sofort in höchster Alarmbereitschaft, da ich nur zu genau wusste, was das bedeutete. Eine Nachricht von Helios und Stratos, den Anführern der Geisterjäger. Normalerweise informierten sie uns auf diesem Wege immer über unser nächstes Missionsziel, aber da wir heute erst auf Mission gewesen waren, konnte das eigentlich gar nicht sein. Vielleicht sollte ich erklären, dass wir ‚nur‘ einmal pro Monat auf Mission gingen. Und dennoch war mir dieser Zettel nun so nah, dass ich ihn aus der Luft fischen konnte. Ich entfaltete das Zettelchen mit rasendem Herzen und zitternden Händen.
Schließlich las ich: Liebe Geisterjäger, ein unerwarteter Zwischenfall ist aufgetreten. Bitte meldet Euch morgen um 10:00 Uhr MESZ im Hauptquartier! Mögen die Untoten Euch allzeit wohlgesonnen sein... blah blah blah. Helios und Stratos
Ich war geschockt. Was sollte das denn bitte bedeuten? Und abgesehen davon, wie sollte ich das anstellen – mich morgen um 10:00 Uhr im Hauptquartier melden? Morgen war Freitag und so würde das mitten während meines Physikunterrichts sein... Nicht, dass ich etwas dagegen hätte, den zu verpassen, aber meine Lehrer wären von dieser Aussicht wohl weniger begeistert. Ich musste mir unbedingt etwas einfallen lassen. Aber nicht jetzt; ich sollte definitiv erstmal schlafen gehen. Ich steckte den kleinen Zettel ein und unterdrückte ein Zittern.
Als ich mich langsam auf den Weg zur Haustür machte, musste ich ein letztes Mal an den kleinen Igel denken und fühlte mich ihm seltsam verbunden. Ich wusste nicht, woher, doch ich war mir sicher, dass ich ihn eines Tages wiedersehen würde.
von Tamina
„Und? Hast du schon eine Idee, was wir am Wochenende machen wollen?“
Meine beste Freundin Marie sah mich neugierig von der Seite an, während ich mein Butterbrot auspackte. Und, nebenbei bemerkt, knallrot wurde. Es war Frühstückspause und wir saßen im Schulhof auf einer der Bänke und holten gerade unser Frühstück hervor.
Ich blickte Marie an und fing ziemlich geistreich an zu stottern: „Äh... nein, noch nicht so wirklich.“ Was im Klartext in etwa folgendermaßen zu übersetzen wäre: „Eigentlich wollte ich mich mit meinen beiden Magier-Freunden am anderen Ende des Kontinents treffen, um weiter an meinen eigenen Zauberkünsten zu feilen.“
„Ich hatte gehofft, dass wir mal wieder was zusammen unternehmen könnten“, fuhr Marie unbeirrt fort und sah mich nun fragend an. „Ich hab gehört, dass unser Freibad bald öffnen soll.“
Damit dürfte sie durchaus Recht haben, schließlich war es mittlerweile ordentlich warm geworden und so dürfte es nicht mehr lange hin sein, bis der große Badespaß begann. Aber andererseits... „Findest du nicht, dass das Wasser dafür noch zu kalt sein könnte?“, gab ich vorsichtig zu bedenken und erntete dafür einen zweifelnden Blick von meiner besten Freundin.
„Ich hatte dich gar nicht so in Erinnerung, dass du so eine Mimose bist“, lachte sie und stupste mich neckend an. Ich versuchte, mit ihr zu lachen, während es in meinem Kopf ratterte. Wie ich noch überlegte, strich ich mir eine Strähne aus den Augen, die leicht vom Wind gebauscht wurde, während meine beste Freundin einfach nur demonstrativ den Kopf schüttelte, um mir zu beweisen, dass sie mit ihren kurzen Haaren keine solchen Probleme hatte.
Dann kam mir eine Idee: „Wann hast du denn am Wochenende Zeit?“, fragte ich Marie. Vielleicht konnte ich mich ja an einem Tag mit ihr und am anderen mit Arwan und Sadwyn treffen?
Meine beste Freundin entgegnete: „Mir wäre ehrlich gesagt der Samstag lieber, weil ich am Sonntag meinen Eltern und meinem Bruder wiedermal beim Ausmisten unseres Kaninchenstalls helfen muss.“ Dabei lächelte sie entschuldigend.
Maries Eltern hatten für sie und ihren kleinen Bruder einen großen Stall mit drei Kaninchen angeschafft. Doch, wie Marie immer im Spaß betonte, waren die Kaninchen mittlerweile ‚groß wie echte Hasen, mit einem Appetit wie einem Pferd und einer Verdauung wie einem Elefanten‘.
Daher lachte ich nun, als ich die Bemerkung hörte, und erwiderte: „Na gut, wollen wir uns morgen treffen und mal schauen, ob unser hiesiges Freibad schon zum kostengünstigen Eiszapfen-Selbstversuch lädt? Und wenn nicht, gehen wir einfach zum Badesee und lassen uns dort auf die Wiese fallen.“
Marie lächelte erfreut und nickte. „Um drei bei mir?“, fragte sie dann und ich nickte ebenfalls grinsend.
Ich dachte schon, dass ich die Gefahr damit geschickt umschifft hätte und wollte gerade genüsslich in mein Brot beißen, als meine beste Freundin plötzlich noch einmal nachhakte: „Was machst du eigentlich am Sonntag?“
Ich erstarrte mitten in der Bewegung und bemerkte gar nicht, wie sich ein großer Klecks Butter gut sichtbar auf meiner – wohlgemerkt dunkelblauen – Jeans platzierte. Ich musste wohl aussehen wie ein Fisch auf dem Trockenen, denn Marie starrte mich für einen Moment irritiert an, bevor sie schallend zu lachen anfing. Dieses Geräusch brach den Bann und ich setzte mich peinlich berührt auf, während ich im gleichen Atemzug versuchte, meine Hose so gut wie möglich von ihrer unpassenden Dekoration zu befreien.
Schließlich zwang ich mich zu antworten: „Irgendwann muss ich ja noch Hausaufgaben machen. Und sonst weiß ich noch nicht genau... Leider kann uns unsere Oma nicht wie sonst besuchen kommen, weil sie ja im Urlaub ist.“
„Ach, ich hab deine Oma Ariana auch schon gefühlt ewig nicht mehr gesehen“, bemerkte Marie nun und sah versonnen hoch zu den großen, weichen Wolken, die träge über den Himmel zogen. Nach einem Moment der Stille fuhr sie fort: „Ehrlich, als du gerade so geguckt hast, wie die sprichwörtliche Kuh wenn’s donnert, dachte ich schon, dass du sonst was ausheckst. Zum Glück kenn ich dich ziemlich gut und weiß, dass du keine geheime Superheldin oder so bist.“ Nun lachte sie, während ich nur ein trockenes „Ha ha“ zustande brachte.
Marie wusste ja gar nicht, wie Unrecht sie hatte... Doch da ich ihr das unmöglich auf die Nase binden konnte, erwiderte ich möglichst heiter: „Na, da hast du ja nochmal Glück gehabt! Ich hätte beinahe meinen Zauberstab rausgeholt und einen ganz besonders fiesen Zauber gewirkt.“ Dabei zwinkerte ich.
Meine beste Freundin hob daraufhin spielerisch die Hände. „Oh nein, bitte nicht“, rief sich dann kichernd, „nicht, dass du unsere ganzen Lehrer weghext. Oder gleich die komplette Schule!“ Nun wurde aus ihrem Kichern ein richtiges Lachen, in das auch ich mit einstimmte, während ich mich unwillkürlich fragte, ob es wohl einen solchen Zauber wirklich gab.
Kurze Zeit später war die Pause zu Ende und wir gingen wieder nach drinnen. Direkt vor uns liefen drei meiner Klassenkameradinnen – die sich selbst gern als die ‚Klassenqueens‘ bezeichneten. Was eigentlich schon alles über Audrey, Charlotte und Helena aussagen sollte. Obwohl wir mindestens fünf Meter Abstand zu ihnen hielten, konnte ich kaum atmen, so stark war der Duft ihres Parfums. Kurz vor der Schultür blieben die drei plötzlich stehen und drehten sich um. Und zwar genau so, dass Marie und ich nie und nimmer an ihnen vorbeikommen würden.
„Na, wen haben wir denn da?“, fragte Audrey gehässig und sah mich an.
Ich schluckte. Dann richtete ich mich so weit wie möglich auf und sagte: „Was wollt ihr?“
Dennoch spürte ich, wie sich mein Puls beschleunigte. Ich war halt einfach nicht so selbstbewusst, wie ich es manchmal gern wäre und egal, wie oft mir andere Leute sagten, dass ich genau daran arbeiten sollte, war ich eben doch immer noch recht schüchtern. Außer in Situationen wie dieser hatte ich auch kein Problem damit. Ich mochte mich so, wie ich war – meistens zumindest. Doch nun hörte sogar ich das leichte Zittern in meiner Stimme und das nervte mich.
„Wir wollen gar nichts“, erwiderte Helena mit einem fiesen Ausdruck in den Augen. „Aber ihr seht aus, als wolltet ihr etwas zu spät zum Physikunterricht kommen!“
Ich verstand nicht so ganz, worauf sie hinauswollte, doch von drinnen drang das Geräusch der Vorklingel – der Ankündigung, dass der Unterricht in fünf Minuten losgehen würde – an mein Ohr und ich wurde immer nervöser. Nach wie vor blockierten die Klassenqueens die Tür. Als ob ich keine anderen Probleme hatte! Ich würde in weniger als einer halben Stunde den Anführern einer gruseligen und gefährlichen Geheimorganisation, die Untote einkehrte, gegenübertreten und hatte nach wie vor keine Ahnung, wie ich mich mal eben schnell kurzfristig selbst duplizieren konnte, damit mein Physiklehrer das nicht bemerkte. Arwan, dem ich heute früh eine kurze Nachricht geschrieben hatte, war ebenso besorgt und hatte auch keine wirkliche Idee, was Helios und Stratos vorhatten. Mit all diesen Gedanken im Kopf hatte ich ehrlich nicht den Nerv, mir eine kreative Antwort auf Helenas Bemerkung einfallen zu lassen. „Aber wir haben euch doch gar nichts getan!“, entgegnete ich daher wenig geistreich.
Unsere Klassenqueens registrierten meine Unsicherheit mit höhnischem Grinsen. Und langsam begriff ich. Sie wollten mich provozieren. Einschüchtern. Mir demonstrieren, dass sie stärker waren als ich. Das hatte ich mir schon viel zu lange gefallen lassen. Und wozu war ich denn eine Zauberin? Ich musste nur einen Weg finden, an meinen drei unausstehlichen Klassenkameradinnen vorbeizukommen.
Der Wind fuhr erneut durch meine Haare und bauschte sie leicht. Da kam mir eine Idee. Ich holte tief Luft. Dann konzentrierte ich mich und trat einen Schritt vor, während die Klassenqueens mich argwöhnisch und Marie ungläubig musterten. Ich straffte meine Schultern und dachte dabei an all die Untoten, die ich in der Vergangenheit schon bezwungen und all die Herausforderungen, die ich gemeistert hatte.
„Wisst ihr“, begann ich und dachte nun an Arwan, den unsterblichen Vandraren, und daran, dass er und Sadwyn fest an mich glaubten. „Wenn ihr hier bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag draußen rumstehen wollt, von mir aus. Marie und ich für unseren Teil gehen jetzt durch diese Tür da hinter euch in die Schule.“
Bei diesen Worten hatte ich mich so groß wie möglich gemacht und war einen Schritt auf die drei Mädchen vor mir zugegangen. Sie waren so erstaunt, dass sie tatsächlich einen Schritt zurückwichen, während Marie mir zögerlich folgte.
Ich hatte nun eine Lücke zwischen Charlotte und Audrey entdeckt und ging zielsicher auf die beiden zu, die mich aus großen Augen anstarrten. „Viel Spaß beim Zuspätkommen, wir sehen uns dann nachher“, fügte ich noch im Gehen hinzu und passierte gleich darauf die Schultür, ohne, dass unsere Klassenqueens auch noch ein Wort gesagt hatten.
Drinnen atmete ich tief durch, während Marie mich noch immer erstaunt ansah. „Wie hast du das gemacht?“, fragte sie leise und ich grinste.
„Weißt du“, entgegnete ich mit einem Zwinkern, „dafür brauche ich keine Zauberei. Nur ein bisschen Selbstvertrauen.“
Wir gingen in unser Klassenzimmer, während mein Kopf bereits damit beschäftigt war, das nächste weltbewegende Problem meines Lebens in Angriff zu nehmen: wie sollte ich es schaffen, mich binnen der nächsten fünf Minuten selbst zu klonen, ohne, dass es jemand mitbekam?
Fünf Minuten später. Lagebericht: Ich saß im Physikzimmer, war immer noch ziemlich ungeklont und allem voran immer noch ohne einen genialen Plan, wie ich mich innerhalb der nächsten Minuten auf unbestimmte Zeit aus der Klasse würde schleichen können. Die Stunde begann und ich wäre vor Schreck beinahe einen halben Meter in die Luft gesprungen, als unser Lehrer den Raum betrat. Die Zeiger unserer Wanduhr indes hatten sich offenbar dazu entschlossen, gerade heute absichtlich jedes einzelne physikalische Gesetz, von dem ich jemals gehört hatte, großzügig zu missachten, und das nur um mich zu nerven, denn sie schienen nur so über das Ziffernblatt zu rasen. Schließlich, es war fünf Minuten vor um zehn und ich überlegte gerade ernsthaft, einfach laut schreiend aus dem Raum zu rennen, öffnete sich die Tür. Es war unsere Klassenlehrerin. Sie fragte unseren Physiklehrer, ob er ihr kurz mit ihrem Laptop behilflich sein könne und die beiden verließen zusammen den Raum. Ich blickte Marie an. Das war meine Chance.
„Marie“, flüsterte ich, „ich bin in ein paar Minuten wieder da, aber ich muss... wohin. Wenn unser Lehrer vor mir zurückkommt, kannst du mich dann decken?“
Meine beste Freundin kicherte und antwortete: „Natürlich. Aber nur, wenn dir nicht gerade eben eingefallen ist, dass du doch eine getarnte Superheldin bist.“
Ich versuchte zu lachen und flitzte aus dem Raum. Zum Glück war der Korridor leer und mit rasendem Herzen und zitternden Händen translokalisierte ich mich ins Hauptquartier. Helios und Stratos erwarteten uns.
von Arwan
Ich stand in der gigantischen Eingangshalle unseres Hauptquartiers und sah mich nervös um. Es war 10:00 Uhr Mitteleuropäischer Sommerzeit. Die Halle um mich herum war leer. Tamina, wo steckst du?, dachte ich. Just in dieser Sekunde erschien meine junge Partnerin nach Atem ringend neben mir.
„Geht’s dir gut?“, fragte ich vorsichtig.
Tamina nickte. „Ja, ich musste mich nur aus meinem Unterricht schleichen. Ich hoffe, das hier dauert nicht allzu lange.“
Wir warteten in der komplett leeren Eingangshalle und die erdrückende Stille lag schwer auf uns wie eine dicke Decke und sandte ein Zittern durch meinen Körper.
Gerade als ich dachte, dass ich es keine Sekunde länger aushalten würde, erschienen zwei schemenhafte Gestalten scheinbar aus dem Nichts vor uns. Helios und Stratos.
Als sie uns erblickten, sahen sie uns irritiert an. Dann kamen sie langsam näher. Ein paar Meter entfernt blieben sie schließlich stehen und Helios fragte: „Warum seid ihr hier? Habt ihr nicht erst vor wenigen Tagen erfolgreich eine Mission beendet?“
Ich starrte sie überrascht an. Aber bevor ich irgendetwas erwidern konnte, stammelte Tamina bereits: „Habt ihr uns denn nicht eine Nachricht gesendet? Dass wir hierher kommen sollen? Dass ihr mit uns sprechen müsst? Irgendetwas wegen eines ‚unerwarteten Zwischenfalls‘?“
Nun schüttelte Stratos den Kopf, als er antwortete: „Nein, es gibt keinen ‚unerwarteten Zwischenfall‘, wie du es nennst. Wir haben euch definitiv keine Nachricht geschickt oder euch gebeten, herzukommen.“
Tamina kramte in ihrer Hosentasche. Dann zog sie ein kleines Blatt Papier hervor und entfaltete es. Sie zeigte es Helios, die es mit einem erstaunten Gesichtsausdruck las.
Nachdem Helios zu Ende gelesen hatte, sagte sie: „Nun, es tut mir leid, dass ihr vergebens hierhergekommen seid, aber Stratos und ich haben das definitiv nicht geschrieben. Wer auch immer euch diese Nachricht gesendet hat, hat euch womöglich nur einen Streich gespielt. Wenn ihr also nichts weiter zu besprechen habt, entschuldigt Stratos und mich bitte. Wir müssen die nächsten Missionsziele auswählen. Wir werden euch zeitnah über eure nächste Mission informieren. Bis dahin, mögen Euch die Untoten wohlgesonnen sein!“ Und damit waren Helios und Stratos verschwunden.
„Was war das denn bitte?“, fragte Tamina, nachdem sie sich wieder halbwegs von dieser seltsamen Unterhaltung erholt hatte.
Ich schüttelte den Kopf. „Ich hab keine Ahnung“, antwortete ich.
„Das war schräg, selbst für ihre Verhältnisse“, sagte Tamina und schaute immer noch reichlich verwirrt drein. „Hast du irgendeine Idee, wer uns diese Nachricht geschickt hat?“ fügte sie dann hinzu und zeigte mir das kleine Zettelchen.
Ich besah es mir und seufzte. „Nicht die leiseste Ahnung“, gab ich schließlich zu.
Wir standen noch einen Moment in der gigantischen Eingangshalle, bevor Tamina plötzlich zusammenzuckte. „Mein Unterricht! Ich muss zurück!“ Sie war schon dabei, sich wieder zurück zu ihrer Schule zu translokalisieren, als sie mich ansah und hinzufügte: „Ich hoffe, wir sehen uns am Sonntag?“
Ich nickte und eine Sekunde später war sie weg.
Ich wollte mich gerade ebenfalls auf den Rückweg machen, als ich plötzlich eine Stimme hinter mir hörte: „Warte!“
Ich drehte mich auf dem Absatz um und erkannte, dass einer von Helios‘ und Stratos‘ Mitarbeitern auf mich zukam. Wie alle anderen auch war er komplett in weiß gekleidet und ich war mir absolut sicher, dass er mir seinen Namen nicht nennen würde, selbst, wenn ich ihn danach fragte. Er war nun bereits ziemlich nahe und in mir breitete sich das eigenartige Gefühl aus, genau diesen Mitarbeiter bereits einmal gesehen zu haben.
„Warte“, wiederholte er und blieb direkt vor mir stehen, bevor er weitersprach, um einiges leiser diesmal. „Ich muss dir etwas mitteilen. Aber nicht hier. Folge mir.“ Und damit drehte er sich um und war auch schon losgelaufen.
Nach einer Sekunde der Verwirrung tat ich, wie er mich geheißen hatte. Was ging hier vor? Wir waren gerade mal ein paar Schritte weit gegangen, doch schon aktivierte sich die Magie dieses Ortes und ließ die Eingangshalle verschwinden. Stattdessen befanden wir uns nun in einem verwirrenden Labyrinth aus Korridoren, die alle gleichsam weiß aussahen. Ich lief noch ein paar Minuten hinter dem Mann her, bevor er anscheinend sein Ziel erreicht hatte. Er blieb vor einer unauffälligen Tür stehen und öffnete sie. Ich trat hinter ihm ein und war erstaunt, als ich feststellte, dass wir in der Schriftensammlung gelandet waren. Umsichtig schloss ich die Tür hinter mir, während der Mitarbeiter mich streng musterte.
Schließlich begann er erneut zu sprechen: „Ich muss dir etwas Wichtiges mitteilen. Es betrifft deine Partnerin. Und du behältst es besser für dich, wenn du weißt, was gut für sie ist. Und dich.“
Ein Zittern lief durch meine Adern und bevor ich es zurückhalten konnte, sagte ich: „Das warst du. Du hast uns diese obskure Botschaft geschickt. Warum?“
Der Mitarbeiter seufzte. „Wegen der Dinge, die hier vor sich gehen. Aber du musst das wirklich für dich behalten. Wenn Helios und Stratos jemals herausfinden, dass ich dir hiervon erzählt habe...“ Er schüttelte den Kopf.
„Deine Partnerin ist in großer Gefahr“, sagte er dann komplett aus dem Zusammenhang heraus.
„Warum?“, flüsterte ich und sah ihn verzweifelt an. „Was meinst du damit, was geht hier vor sich?“
Der Mitarbeiter starrte mich an, bevor er weitersprach. „Es ist wegen Jaropolk und Ke’Indra. Wie du sicher weißt, sind sie Geisterjäger, genau wie Tamina und du. Ich habe vor Kurzem eine Unterhaltung der beiden mitangehört. Sie planen etwas, um Tamina endgültig zur Strecke zu bringen. Sie sagten etwas von einer ‚Rache‘ und einigen alten ‚Rechnungen‘, die sie zu begleichen hätten. Ich kenne den genauen Kontext nicht, aber sie wäre nicht der erste Geisterjäger, der durch die Hände der beiden stirbt. Sei vorsichtig.“ Nachdem er zu Ende gesprochen hatte drehte er sich um und war bereits wieder auf dem Weg nach draußen, als ich ihn zurückhielt.
Ich war so geschockt, dass ich nicht mehr wirklich klar denken konnte, als ich nun stammelte: „Aber warum hast du mir das erzählt? Warum hilft du mir?“
Er drehte sich erneut zu mir um und in diesem Moment verstand ich. „Das bist du. Du bist genau derselbe Mitarbeiter, der Tamina und mich damals hier herumgeführt hat, direkt nachdem wir Geisterjäger geworden sind. Der uns dann zu unseren Schiffen in den Senegal und zur unserer Hütte im Québec gebracht hat.“
Der Mann nickte. „Aber glaube ja nicht, dass das etwas ändern würde“, sagte er und musterte mich hochmütig. „Ich habe nur wirklich nicht den Nerv, hier ständig neue und ebenso untalentierte Geisterjäger in ihre Tätigkeit einweisen zu müssen. Wenn du also auf deine Partnerin aufpassen könntest, sodass sie noch ein bisschen länger am Leben bleibt, wäre ich dir sehr verbunden.“ Er hatte diese Worte in einem triefend sarkastischen Tonfall gesagt, und nachdem er sich gleichsam sarkastisch vor mir verbeugt hatte, verschwand er.
Ich brauchte ein paar Augenblicke, um meine Selbstbeherrschung wiederzugewinnen. Auf einen Schlag hatte ich schon wieder so viele neue Sorgen, dass ich langsam das Gefühl hatte, komplett den Überblick zu verlieren. Schließlich seufzte ich und verließ ebenfalls die Schriftensammlung. Ich musste wirklich weg von hier. Ich wusste, dass Tamina und ich weitermachen mussten, denn welche Alternative hatten wir schon?
Mir war klar dass, sollten wir uns jemals dazu entschließen, die Geisterjäger zu verlassen, wir uns niemals mehr würden wiedersehen dürfen. Und als erfahrener Toter kann ich euch sagen, niemals ist eine verdammt lange Zeit. Auf der anderen Seite konnten wir auch nicht mal eben Helios und Stratos darum bitten, uns für eine Weile von unseren Pflichten zu entbinden, denn dann würden die beiden uns noch argwöhnischer gegenüberstehen. Außerdem glaubte ich nicht, dass irgendetwas davon etwas bringen würde. Jaropolk und Ke’Indra würden ihr Ziel auch so gnadenlos weiterverfolgen. Wie konnte ich Tamina nur beschützen? Ich seufzte.
Es war vermutlich höchste Zeit, wieder die Zauberbücher rauszuholen und Tamina einige defensive – und einige weniger defensive – Zauber beizubringen.
von Sadwyn
Es war Sonntagnachmittag. Zumindest war es dort Sonntagnachmittag, wo ich mich gerade hintranslokalisiert hatte. Arwan, Tamina und meine Wenigkeit wollten uns in meinem Zuhause in Cardiff treffen und Tamina ein paar neue Zauber beibringen. Ich blickte mich in meinem Wohnzimmer um, doch auf den ersten Blick konnte ich niemanden entdecken. Ja, ich war etwas spät dran, weil ich mit Freunden am anderen Ende der Welt unterwegs gewesen war und nicht wirklich auf die Uhr geschaut hatte. Nun blickte ich mich genauer um und entdeckte schließlich Tamina, die mich angrinste. Vermutlich, weil ich nach wie vor mein Surfbrett bei mir trug. Aber Arwan konnte ich nirgendwo entdecken. Wo steckte er nur?
„Weißt du zufällig, wo mein Cousin ist?“, fragte ich Tamina daher und sie grinste noch breiter, als sie erwiderte: „Oh, weißt du, er zeigt mir nur gerade einen Zauber. Er ist hier irgendwo, nur halt unsichtbar.“
„Ach, der alte Trick“, sagte ich und konnte selbst ein kleines Grinsen nicht unterdrücken. „Aber ich dachte, du kennst den Zauber schon?“, fügte ich dann hinzu und fühlte Verunsicherung in mir aufwallen. Ich war mir sicher, dass wir Tamina bereits beigebracht hatten, sich unsichtbar zu machen. Oder verwechselte ich hier irgendwas? In diesem Moment fühlte ich mich echt alt.
Zum Glück schüttelte Tamina nun den Kopf und sagte: „Keine Sorge. Ich weiß sowohl, wie ich unsichtbar werde, als auch, wie ich mich wieder sichtbar machen kann.“ Sie wollte sicherlich darauf hindeuten, dass sie beide Zaubersprüche für diese Aktion kannte, da man nämlich einen Spruch benötigte, um unsichtbar zu werden und einen anderen, um wieder zu erscheinen.
„Siehst du?“, sagte Tamina und verschwand. Einen Moment später konnte ich sie wieder sehen. „Mephainō und Phainō. So schwer ist das gar nicht. Das sind doch irgendwelche kreativen Abwandlungen eines altgriechischen Wortes, oder?“, fragte sie.
Ich nickte. „Das stimmt. Aber kannst du mir jetzt bitte mal verraten, was Arwan eigentlich vorhat?“
Genau in dieser Sekunde beschloss die Vase neben mir urplötzlich zu explodieren. In einem Atemzug war ich aufgesprungen, hatte meinen Zauberstab gezückt und versuchte einen möglichen Eindringling ausfindig zu machen. Aber da war niemand. Stattdessen erschien Arwan vor mir und sagte: „Entschuldigung für die Vase. Und Hi im Übrigen. Heute will ich mit Tamina üben, Zauber zu wirken, während sie unsichtbar ist. Wie du weißt, braucht es um einiges mehr an Konzentration, mehrere Zauber auf einmal aufrechtzuerhalten.“
„Und deshalb zerstörst du mein Haus?“, gab ich zurück und konnte gleichzeitig ein erleichtertes Seufzen nicht zurückhalten.
Arwan grinste mich entschuldigend an, bevor er die Vase mit einem kleinen Wink seines Zauberstabs reparierte. Sie klebte sich selbst wieder ordentlich zusammen und nahm ihren vormaligen Platz auf dem Tisch ein. Zum Glück waren keine Blumen drin gewesen.
Ich schüttelte den Kopf und grinste ebenfalls. Tamina hatte in der Zwischenzeit zwischen meinem Cousin und mir hin und her geblickt. Aber sie war mittlerweile an unser gelegentliches Gezanke gewöhnt. Ich meine, wenn man die letzten siebzig Jahre oder so zusammen rumgehangen hat, dann berechtigt das schon zu ein paar gelegentlichen Neckereien.
„Hab ich sonst noch was verpasst?“, fragte ich und Tamina seufzte.
Dann sagte sie: „Ehrlich, ich weiß gar nicht wie ihr es schafft, das alles geheim zu halten. Eure Fähigkeit zu zaubern. Euer Leben als Vandraren. Es fühlt sich für mich so an, als sei ich erst gestern den Geisterjägern beigetreten und ich hab jetzt schon Schwierigkeiten, nicht versehentlich vor meinen Freunden auszuplaudern, was in meinem Leben so Schräges abgeht. Besonders vor meiner besten Freundin Marie.“
Nun blickten sowohl Arwan als auch ich alarmiert drein, vielleicht ich sogar noch etwas mehr als Arwan, der sicherlich wusste, worum es Tamina ging. Aber auch er machte ein sorgenvolles Gesicht und so fragte ich langsam: „Glaubst du... dass sie es herausfinden könnte?“ Falls die Antwort ja lautete, wären wir nämlich in echten Schwierigkeiten.
Aber zu meiner Erleichterung schüttelte Tamina den Kopf. Sie versuchte zu lächeln und fügte hinzu: „Macht euch keine Sorgen. Es ist nur ein komisches Gefühl, plötzlich Geheimnisse vor meinen Freunden zu haben.“
Ich nickte mitfühlend. Ich selbst hatte auch eine Weile gebraucht um mich daran zu gewöhnen, anderen Leuten weiszumachen, dass ich noch lebendig sei.
„Und du, Arwan?“, fragte ich meinen Cousin in der Hoffnung, dass er irgendetwas Lustiges zu erzählen hatte, um unser aller Laune wieder ein bisschen zu heben.
Mein Cousin schien verstanden zu haben, denn er antwortete: „Viel zu viel. Wisst ihr, unser Schlagzeuger hat mich ein paar Minuten, bevor du hier aufgekreuzt bist, angerufen. Meine ganze Band ist am Durchdrehen, weil unsere Geigerin wohl irgendwie die super-genial-beste-was-auch-immer Idee für unsere anstehende Tournee gehabt haben muss. Und deshalb müssen wir uns unbedingt in exakt... siebzehn Minuten und dreißig Sekunden in unserem Tonstudio in London treffen.“
Tamina und ich schüttelten beide den Kopf und grinsten über die Geschichte meines Cousins. „Dann üben Sadwyn und ich halt einfach zusammen weiter“, sagte Tamina. „Übrigens, könnten wir damit vielleicht weitermachen? Und Arwan, kannst du die Nummer mit der Vase nochmal machen? Sadwyns Gesichtsausdruck, als sie aus dem Nichts heraus explodiert ist, war göttlich!“
Arwan grinste entschuldigend und sagte: „Aber eigentlich war es gar nicht so geplant. Eigentlich hatte ich sein Surfboard in die Luft jagen wollen, weil es mir immer im Weg ist, überall im ganzen Haus und zwar ganz besonders dann, wenn ich mit meiner Gitarre vorbei muss und es eilig habe.“
Ich wusste, dass es nur ein Scherz war und so grinste ich bloß. „Also gibst du endlich zu, dass du zu alt bist, um deinen Zauberstab richtig zu zielen? Vielleicht ist es ganz gut, dass du jetzt zu deinem Bandtreffen musst. Ich bringe Tamina in der Zwischenzeit bei, wie sie deinen Bass verstimmt, ohne ihn auch nur zu berühren!“
Jetzt mussten wir alle lachen. Nach ein paar Augenblicken kamen wir wieder auf unser eigentliches Thema zurück und Arwan sagte: „Vielleicht ist es am besten, Tamina, wenn du nochmal mit dem Unsichtbarkeitszauber anfängst. Danach können wir uns daran machen, einfache Gegenstände zu bewegen. Wenn du das hinbekommst, machen wir uns daran, mehrere ‚echte‘ Zauber gleichzeitig zu wirken.“
Ich nickte, weil ich genau wusste, worauf Arwan abzielte. Allgemein gesprochen brauchte an immer einen Zauberspruch, um Magie zu wirken. Diesen musste man nicht notwendigerweise laut aussprechen, es war ausreichend, ihn in Gedanken zu rezitieren. Aber als geübter Magier konnte man auch Gegenstände mit bloßer Willenskraft bewegen. Zum Beispiel einen Bleistift von einer Seite des Tisches auf die andere rollen lassen. Es war zwar nur ein kleiner Trick, aber doch manchmal ganz praktisch. Und bei Weitem nicht so anstrengend wie einen richtigen Zauber zu wirken. Gesagt, getan. Natürlich musste Tamina unbedingt meine geliebte Vase als Trainingsobjekt missbrauchen.
„Wenn du sie in die Luft jagst, zwinge ich dich, alle Teile ohne Magie wieder zusammenzukleben!“, drohte ich, doch Tamina lachte nur. Alles in allem klappte es ziemlich gut.
Exakt siebzehn Minuten später sagte Arwan: „Tut mir leid, aber ich muss euch an dieser Stelle verlassen. Glaubt ihr, ihr kriegt das auch ohne mich hin?“
„Natürlich schaffen wir das!“, gab Tamina zurück, doch ich hatte das Gefühl, dass sie ein wenig traurig dreinblickte.
Arwan schnappte sich seine Gitarre und war kurze Zeit später schon auf dem Weg nach London.
Tamina und ich blickten uns schweigend an.
„Alles okay?“, fragte ich schließlich, weil sie immer noch nichts wieder gesagt hatte, seitdem Arwan verschwunden war.
„Klar“, gab sie zurück, „es ist nur... eigentlich wollte ich ihn noch was fragen. In Bezug auf die ganze Geheimhaltung und auch zum Thema Entscheidungen. Mach dir keinen Kopf, es ist nicht so wichtig.“
Gleichzeitig schaute sie aber so unsicher drein, dass ich seufzte und vorschlug: „Wie du weißt, bin ich auch ein Vandraren. Ich hoffe, dass du auch mir genug vertraust, um vielleicht mit mir über deine Sorgen zu sprechen? Ich weiß, dass viele Leute mich nur aufs Surfen reduzieren, aber auch ich habe schon viele kuriose Dinge in meinem Leben gesehen und vielleicht kann dir meine Wenigkeit mit einem kleinen bisschen seiner Vandraren-Weisheit weiterhelfen.“ Ich zwinkerte und registrierte erleichtert, dass Tamina schon wieder ein bisschen lächelte.
Nach einem kurzen Moment ergänzte ich: „Aber nicht hier. Ich denke, wir haben für heute genug geübt. Darf ich dir einen meiner Lieblingsplätze auf dieser Welt zeigen? Selbstverständlich liegt er am Meer, aber ich wette, er wird dir gefallen. Soweit ich weiß, haben sich viele bekannte Autoren und Dichter von diesem Ort inspirieren lassen und ich bekomme dort immer den Kopf frei.“
Als ich Taminas erstaunte Reaktion auf meine letzten Worte bemerkte, sagte ich: „Weißt du, bei uns Vandraren musst du immer genau das erwarten, das du nicht auf den ersten Blick oder an der Oberfläche sehen kannst. Du solltest immer das Unsichtbare erwarten!“ Dann nahm ich ihre Hand und wir translokalisierten uns.
von Tamina
Wir standen am Meer. Ich konnte die Wellen mehrere dutzend Meter unter mir auf die Küste zurollen und mit einem donnernden Geräusch brechen sehen. Wir standen hoch auf einem Kliff und ich war von dem Ausblick und der Atmosphäre absolut beeindruckt. Ich holte tief Atem; die Luft roch und schmeckte nach dem frischen Salzwasser, das unter uns aufspritzte. Schließlich drehte ich mich zu Sadwyn um, der mich mit einem kleinen Grinsen beobachtet hatte.
„Wow“, sagte ich, „es ist unglaublich schön hier. Wenn die Luft nicht so frisch wäre, würde ich sogar sagen atemberaubend schön. Wie kommt es, dass du Arwan oder mir noch nie hiervon erzählt hast?“
„Nun“, erwiderte Sadwyn, „Arwan weiß, dass ich gelegentlich hierherkomme, um meinen Kopf wieder freizubekommen. Und ich schätze, wir beide hatten einfach noch nicht die Gelegenheit, darüber zu sprechen. Bei allem, was hier sonst noch so los ist...“ Er musste seinen Satz nicht beenden. Es war wirklich noch so einiges los...
„Also“, unterbrach Wynn meine Gedanken, „du wolltest über Geheimnisse reden? Hat es was mit unseren aktuellen Ereignissen zu tun? Wie zum Beispiel, dass Jaropolk und Ke’Indra dich gnadenlos verfolgen oder dass deine Eltern und Freunde die Wahrheit über dein geheimes Leben als mächtige Magierin herausfinden?“ Er zwinkerte.
Ich grinste für einen kurzen Moment. Wenn es bloß so einfach wäre. Diese Probleme waren wenigstens einfach zu benennen. Doch ich dachte an etwas anderes. Ich brauchte einen Moment, um meine Gedanken in einen verständlichen Satz zu bringen, und Sadwyn beobachtete mich neugierig, bevor sein Blick wieder zurück auf die See wanderte.
Schließlich holte ich tief Luft und begann: „Vor zwei Tagen, da hatte ich eine kleine... Auseinandersetzung mit drei meiner Klassenkameraden. Sie wollten mir Angst einjagen und einen Streich spielen... Aber das ist eigentlich gar nicht so wichtig und...“
„Warte“, unterbrach mich Sadwyn mit ernstem Gesichtsausdruck, „jemand mobbt dich und du sagst, das sei nicht so wichtig? Natürlich ist es das!“
„Marie und ich sind glimpflich davongekommen“, gab ich zurück, „und darum geht es mir auch gar nicht. Was ich eigentlich sagen wollte, ist...“
„Aber sie machen das nicht öfter, oder?“, unterbrach Wynn mich erneut und ich schüttelte den Kopf.
„Nein, das ist wahrscheinlich einfach ihre Art. Hör mal, können wir wieder zum eigentlichen Thema zurückkommen, bei dem ich Quatsch rede über irgendein obskures Problem, das ich mir vielleicht oder auch nicht nur einbilde? Ich habe sowieso schon genug Probleme, überhaupt darüber zu sprechen.“
Sadwyn seufzte. Dann sagte er: „Okay. Aber wenn sie dich weiterhin mobben, gehst du zu einem Lehrer. D’accord?“
„Jawohl, Sir“, antwortete ich und Sadwyn nickte aufmunternd.
„Also, was ist los? Und ich bin mir sicher, dass du dir deine Sorgen nicht nur einbildest – wo nimmst du nur solche Formulierungen her? Du solltest wirklich selbstbewusster werden.“
„Und genau das ist das Problem“, begann ich. „Als ich in dieser... besagten Situation war... hab ich mich wirklich hilflos gefühlt. Einerseits wusste ich, dass sie mich nur einschüchtern wollten, aber auf der anderen Seite hab ich mich zunächst nicht wirklich getraut, etwas dagegen zu sagen. Und das hat mich zum Nachdenken gebracht.“
Ich wartete ein paar Augenblicke, damit Sadwyn verdauen konnte, was ich eben gesagt hatte. Dann fuhr ich fort. „Ich denke oft darüber nach, wie Leute es schaffen, einfach ihre Meinung zu sagen und zwar genau so, wie sie ist, ohne allzu viel über mögliche Konsequenzen nachzudenken. In Situationen wie der vor zwei Tagen oder allgemein, wenn ich in einem unvertrautem Umfeld bin, versuche ich vor allem abzuschätzen, was passiert, wenn ich dieses oder jenes tue. So, als ob mein Handeln negative Konsequenzen für andere nach sich ziehen könnte.“
„Aber ich hoffe, dass du nicht gerade an deine fiesen Klassenkameraden denkst?“, fragte Sadwyn und zog eine Augenbraue hoch. „Wenn ich du wäre, hätte ich schon lange einen echt fiesen Zauber auf sie abgefeuert.“ Er zwinkerte und ich seufzte.
„Für einen Moment habe ich ernsthaft mit dem Gedanken gespielt", gab ich schließlich zu. „Aber ironischerweise musste ich feststellen, dass die Fähigkeit, zaubern zu können, solche Dinge kein bisschen leichter macht." Dann überlegte ich kurz. „Okay, vielleicht war das ein blödes Beispiel. Nehmen wir ein anderes. Wie ist es damit, dass du mich hergebracht hast? Ich war schon eine ganze Weile neugierig darauf, mehr über dich zu erfahren. Zum Beispiel, wie es für dich ist, ein Vandraren zu oder wie du immer so optimistisch sein kannst. Aber ich würde es nie wagen, dich das einfach so zu fragen, weil ich viel zu viel Angst hätte, dass du mir einfach an den Kopf knallst, dass ich mich verziehen soll.“
Wynn dachte für einen Moment über meine Wort nach. Dann antwortete er: „Erstens, das würde ich nie sagen. Und um deine Frage zu beantworten: Du weißt, dass ich während meiner Lebenszeit – wenn man es denn ‚Lebens‘-Zeit nennen will, schon einige verrückte Dinge gesehen habe. Und ich habe verstanden, dass manchmal Gutes, und manchmal weniger Gutes passiert. Das ist etwas, das ich nicht ändern kann. Aber ich denke, dass meine persönliche Einstellung den Dingen gegenüber verändert, wie ich diese wahrnehme. Wenn ich mich immer nur auf das Schlechte in der Welt fokussiere, dann werde ich mich natürlich unwohl damit fühlen. Und deshalb habe ich mich dazu entschlossen, lieber auf die schönen Dinge des Lebens zu achten. Das wird zwar nicht verhindern, dass auch die schlechten Dinge geschehen, aber es verhindert hoffentlich, dass ich deswegen die ganze Zeit Trübsal blase.“
Ich war fasziniert, endlich mehr über Wynn zu erfahren und so fragte ich vorsichtig weiter: „Und warum scheinst du dich die ganze Zeit nur fürs Surfen zu interessieren?“
Jetzt kicherte Wynn. „Nun, weil ich es mag. Es gibt mir ein Gefühl der Freiheit. Denn da gibt es nur das Meer und mich. Gleichzeitig ist da dieses prickelnde Gefühl des Unvorhersagbaren. Du weißt nie, was die nächste Welle dir bringt. Es ist immer ein Abenteuer, immer eine Herausforderung.“
„Das muss großartig sein“, seufzte ich. „So mit sich im Reinen zu sein.“
„Nun ja, mal unabhängig davon, wie oft Arwan und ich uns auch in den Haaren liegen, ist es gut jemanden zu haben, der einen versteht und mit dem man offen reden kann.“
Ich seufzte.
Nach einer kurzen Pause blickte Sadwyn mich besorgt an. „Du guckst plötzlich so traurig?“, fügte er schließlich hinzu.
Ich schüttelte den Kopf. „Entschuldige. Es ist nur... ach, eigentlich verstehe ich es selbst nicht. Aber als du eben davon gesprochen hast, wie froh du bist, dass du Arwan zum Reden hast...“
Ich zitterte. Doch dann konnte ich es einfach nicht länger zurückhalten. „Hör mal, Wynn. Ich will dich hier echt nicht nerven“, fuhr ich schließlich fort. „Es ist nur, manchmal... wünschte ich, ich hätte auch so jemanden. Manchmal machen mich diese ganzen verrückten Dinge in meinem Leben unglaublich traurig. Und einsam. Es fühlt sich an, als würde ich in der Mitte durchgerissen werden. Auf der einen Seite habe ich mein ganz normales Alltagsleben. Auf der anderen Seite bin ich Mitglied einer Organisation, die Untote einkehrt. Mein Leben hat sich um gefühlte dreihunderteinundsechzig Grad gedreht und ich kann das mit niemandem von meiner Familie oder mit meinen anderen Freunden teilen..."
Ich sah, dass Sadwyn Anstalten machte etwas zu erwidern und unterbrach ihn deshalb, noch bevor er auch nur ein einziges weiteres Wort sagen konnte.
„Wie gesagt, es tut mir Leid, dich damit vollzuschwafeln. Ich will dir wirklich keine Unannehmlichkeiten bereiten. Ich weiß, was du sagen willst und du hast recht; ach Wynn, warum erzähle ich dir das eigentlich? Herumzurennen und meine Sorgen in die Welt zu schreien macht die Sache auch nicht besser und ich bin mir vollauf bewusst, dass jeder seine eigenen Probleme hat und viele davon weitaus heftiger sind als meine. Ich habe nur das Gefühl, als ob ich in einer endlosen Suche gefangen wäre; einer Suche nach einem Ort, an den ich wirklich hingehöre. Einen Ort, den ich Zuhause nennen kann. Um mal ganz brutal ehrlich zu sein; manchmal möchte ich all das nur noch der Welt entgegenschreien. All dieser Oberflächlichkeit und diesem Egoismus. Aber ich weiß, dass es nichts ändern würde. Es würde nur andere Menschen traurig machen. Menschen, die mir wichtig sind. Und so zeige ich niemandem, wie zerrissen ich mich manchmal fühle.“ Nachdem ich fertig war, bemerkte ich, dass mir eine einsame Träne langsam über die Wange lief und so wischte ich sie ärgerlich weg. Was hatte mich eben nur so sehr zusammenbrechen lassen?
Sadwyn blickte mich an und wusste offensichtlich nicht, was er dazu sagen sollte. Also richtete ich mich auf und zog einen Schlussstrich unter die ganze Sache. „Egal, vielen Dank, dass du dir mein Gesülze angehört hast. Ich glaube, was ich schlicht und ergreifend sagen wollte, ist, dass ich unglaublich dankbar bin für jede Erfahrung, die mich nicht mehr so empfinden lässt, und sei es nur für einen Sekundenbruchteil“, fügte ich nun hinzu und versuchte, meine Traurigkeit loszuwerden. Eine Traurigkeit, die mich schon viel zu lange begleitet hatte und die vermutlich komplett überflüssig war. Sicherlich war sie nicht gerade hilfreich.
„Was ich gerade über dich gelernt habe, ist“, gab Sadwyn nach einer Weile und in dem offensichtlich heldenhaften Bestreben zurück, meine Laune zu heben, „dass du viel zu viel nachdenkst. Und vor allem viel zu viel über eine mögliche Zukunft. Wann hast du jemals irgendetwas getan oder ausprobiert, ohne vorher im Kopf alle möglichen Folgen durchzurechnen?“
„Nun, wenn du so fragst...“ antwortete ich langsam. „Vielleicht, als ich mich dazu entschlossen habe, den Geisterjägern beizutreten. Vielleicht war das ein verzweifelter Versuch, von all diesen Ängsten und Vermutungen über eine mögliche Zukunft loszukommen. Und Vorhersagen. Und Vorher-Vorhersagen. Egal. Ich musste das nur mal loswerden. Danke fürs Zuhören, Wynn.“
„Gerne doch. Ich wusste nicht, dass du immer so besorgt bist. Aber wie du weißt, bin ich eher so der spontane Typ und so kann ich dir nur dazu raten, manchmal einfach aufzuhören, darüber nachzudenken, was sein könnte und es einfach zu machen. Denn wenn du nie etwas wagst, wird auch nie irgendetwas passieren.“ Dann schien ihm ein Gedanke zu kommen. „Vielleicht magst du ja eines Tages mal mit mir Surfen gehen?“, fragte er und zwinkerte mir zu.
Ich nickte unsicher. „Vielleicht.“
„Weißt du“, fügte Sadwyn nach einer Weile hinzu, „ich hatte vor Kurzem eine sehr interessante Unterhaltung mit Arwan. Er scheint das exakt gegenteilige Problem zu deinem zu haben. Während du immer versuchst, eine mögliche Zukunft zu ermitteln, hat er mir letztens erzählt, dass er befürchtet, viel zu lange in seiner eigenen Vergangenheit gelebt zu haben. Ich denke, ihr beide seid ein super Team!“
Mir war klar, dass er nur einen Scherz machte und grinste. Irgendwie hatte es mir wirklich geholfen, mit Sadwyn zu sprechen. Aber dieser letzte Satz verlange geradezu nach Rache. Also sagte ich: „Danke Wynn. Und nur so nebenbei, bist du dir sicher, dass du die Vase in deinem Wohnzimmer in Cardiff wirklich noch brauchst? Vielleicht komme ich einfach auf sie zurück, sobald wir anfangen Explosionszauber zu üben.“
von Arwan
Ich war gerade im Archiv einer kleinen sächsischen Stadt. Zwischen all den alten Urkunden hoffte ich, auf ein paar Zauberbücher zu stoßen. Außerdem war ich dabei, mich ein wenig über die hiesige Gegend zu belesen; schließlich hatte ich doch mal Geschichte studiert und irgendwie kam da der Historiker in mir wieder zum Vorschein. Ich war ja nun des Öfteren im heutigen Sachsen unterwegs und so war mir vor einiger Zeit die Idee gekommen, mich doch mal etwas intensiver mit der Geschichte von Taminas Heimat zu befassen. Doch im Kopf war ich eigentlich woanders...
Denn mit Jaropolk und Ke’Indra bahnten sich neuerliche Probleme an. Die beiden Magier hatten nach wie vor nicht davon abgesehen, Jagd auf meine Geisterjägerpartnerin zu machen. Tamina hatte mir mehrfach berichtet, dass sie ihre Verfolger in ihrer Nähe hatte auftauchen sehen, und zwar bewusst so, dass Tamina sie einfach bemerken musste. Bis jetzt war das zwar immer an öffentlichen Orten gewesen und sie hatten Tamina dabei auch nicht angegriffen, aber das war nur eine Frage der Zeit...
Entsprechend angespannt war ich also auch, als mich mitten zur besten Vormittagszeit – es war ein Wochentag und Tamina hatte eigentlich Schule – eine Nachricht von ihr erreichte. Ich hatte mich gerade durch die Akten, Urkunden und Bücher gegraben, die ich zuvor aus dem Bestand gesichtet hatte, als plötzlich mein Handy vibrierte. Wie gesagt, eine Nachricht von Tamina.
Sie schrieb: Hast du kurz Zeit?
Naturgemäß gingen bei mir sofort alle Alarmglocken an und ich sprang auf. Wenig später schon traf ich sie in einem leeren Klassenzimmer in ihrer Schule.
„Was ist denn passiert?“, fragte ich, obwohl ich gefühlt noch gar nicht richtig angekommen war. Ich besah mir meine Geisterjägerpartnerin von Kopf bis Fuß, doch sie schien zum Glück komplett unversehrt.
Als Tamina meinen ernsten Blick registrierte, erwiderte sie schnell, wohl um mich zu beruhigen: „Mir geht‘s gut. Nur... es ist schon wieder passiert. Ich habe sie gesehen. Heute früh, auf dem Weg zur Schule. Obwohl ich mir eigentlich nicht mal sicher bin, ob sie es wirklich waren. Es war eher so, dass ich das Gefühl hatte, plötzlich zwei Schemen an der Bushaltestelle gesehen zu haben, an der wir gerade gewartet haben. Dann war es auch schon wieder vorbei.“
Ich seufzte und ließ mir die Sache durch den Kopf gehen. Dieses Verhalten würde genau zu der Einschüchterungstaktik passen, die die beiden schon mehrfach angewendet hatten. Zum Glück hatten sie Tamina nicht angegriffen. „Hast du nicht eigentlich gerade Unterricht?“, wandte ich schließlich erstaunt ein und blickte kritisch auf die Wanduhr, bevor ich Tamina mit hochgezogener Augenbraue musterte.
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, wir haben Freistunde, weil unser Mathelehrer krank ist. Die anderen sind alle sonst wohin ausgeschwärmt. Nein, was ich meine, ist…“ Sie suchte für einen Moment nach Worten. „Ich will ja hier keinen Wirbel wegen nichts machen, aber ich fürchte den Tag, an dem sie es nicht nur bei Drohungen belassen...“
Ich überlegte. Dann sagte ich zögerlich: „Du hast recht, wir können bei den beiden nicht vorsichtig genug sein. Aber ich denke nicht, dass in der Schule eine akute Gefahr besteht. Vor allem nicht hier in der Schule, weil du hier die ganze Zeit andere Menschen, die wohlgemerkt Nicht-Magier sind, um dich hast.“ Dabei spielte ich auf ihre Klasse an, vor der die beiden Geisterjäger sich wohl kaum freiwillig würden enttarnen wollen, und Tamina nickte langsam.
„Dennoch können wir nicht vorsichtig genug sein“, betonte ich nach einer kurzen Pause mit Nachdruck. „Wenn du dich zu unsicher fühlst, schicke ich Sadwyn als Verstärkung hinter dir her. Mit seinem gigantischen Surfboard ist der so furchteinflößend, der schlägt jeden in die Flucht!“ Bei diesen Worten zwinkerte ich aufmunternd.
Tamina war nun spürbar erleichtert und grinste vorsichtig.
Wir verharrten einen Augenblick schweigend, bis uns plötzlich die Schulklingel beide im wahrsten Sinne des Wortes zusammenfahren ließ.
Meine Partnerin schreckte auf und sagte: „Das war das Vorklingeln. Ich muss wieder.“ Sie sah mich noch einmal an und setzte leiser dazu: „Danke... für alles.“ Dann war sie schon aus dem Raum geflitzt.
Ich blickte ihr noch kurz hinterher, bevor auch ich mich zurück auf den Weg in das kleine Archiv machte. Doch dort angekommen, dachte ich nur noch über meine kleine Geisterjägerpartnerin nach. Und über Jaropolk und Ke’Indra.
Irgendetwas musste ich doch unternehmen! Seit mir der Mitarbeiter im Hauptquartier mehr oder minder offen erklärt hatte, dass Tamina in akuter Gefahr schwebte, suchte ich verzweifelt nach einer Lösung. Aber egal, wie ich es auch versuchte, ich schaffte es einfach nicht, an irgendwelche hilfreichen Informationen über Jaropolk und Ke’Indra zu kommen. So wusste ich nur, dass sie eigentlich immer übertrieben schick angezogen waren. Und, dass sie vermutlich schon ziemlich alt waren. Womöglich sogar schon mehrere Jahrhunderte, womit sie um einiges älter wären als ich. Aber wie sie es dabei schaffen sollten, ihr Aussehen zu bewahren, war mir schleierhaft. Schließlich waren sie keine Vandraren, das hätte ich definitiv erkannt. Ich hatte sogar versucht, in der Schriftensammlung des Hauptquartiers mehr über die beiden Geisterjäger herauszufinden, doch komischerweise waren sofort Helios und Stratos persönlich in Aktion getreten und hatten wissen wollen, was ich denn da trieb. Mir dämmerte langsam, dass die beiden innerhalb der Geisterjäger wohl einen gewissen Sonderstatus zu genießen schienen, auch wenn ich mir nicht erklären konnte, wieso. Und so grübelte ich nun. Ich war halb und halb am Überlegen, Sadwyn dazu zu rufen. Vielleicht hatte er ja noch eine Idee? Wenigstens hatten wir mit Tamina angefangen, diverse neue Zauber zu trainieren und sie konnte diese mittlerweile sogar problemlos ausführen, während sie unsichtbar war. Das war mir sehr wichtig gewesen, damit sie sich vor Jaropolk und Ke’Indra würde schützen können. Doch ich wusste zugleich auch, dass noch ein langer und womöglich ziemlich steiniger Weg vor uns lag.
Ich beschloss nach all diesen trüben Gedanken, es für heute gut sein zu lassen und erhob mich.
Die nächsten Tage vergingen schleppend. Schließlich kreuzte eines Nachmittags Wynn ganz unvermittelt in Cardiff auf. Ich war erstaunt; eigentlich hatte ich ihn ja auf irgendeinem Surfcontest gewähnt. Sadwyn wirkte angespannt und seine noch triefend nassen Locken verrieten, dass er wohl bis eben wirklich noch durchs Meer getollt war.
„Gut, dass ich dich hier treffe“, begrüßt er mich und trat auf mich zu. Im nächsten Atemzug fuhr er fort: „Ich hatte gerade noch eine Idee, wer vielleicht noch etwas über Jaropolk und Ke’Indra wissen könnte.“
Ich sah ihn erstaunt an. Wir hatten doch schon so vieles vergeblich probiert und dennoch sah Sadwyn plötzlich aus, als habe er eben eine Erleuchtung von der Stärke einer Supernova gehabt.
„Was hältst du davon, wenn wir Merlin, Sohn von Merlin um seinen Rat bitten? Als Sohn des legendären Merlin hat der Gute doch auch schon ein paar Jährchen auf dem Buckel. Vielleicht weiß er etwas über die beiden?“
Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Merlin, Sohn von Merlin war in der Tat ein Zauberer, der weitreichende Kontakte in der ganzen Welt besaß und als einer der weltbesten Zauberstabhersteller kam er auch ganz schön in der Gegend rum.
„Die Frage ist nur“, wandte ich ein, „wie sollen wir ihn kontaktieren? Bisher ging das ja nur über seine Webseite und das hatte jedes Mal mit unseren Zauberstäben zu tun...“
„Bah“, unterbrach Wynn mich, „irgendwie muss der Typ ja auch mal in Zeiten vor dem Internet gelebt haben. Nur schade, dass wir uns bei seinem letzten Besuch nicht seine Handynummer haben geben lassen.“
Ich konnte ein leichtes Grinsen nicht unterdrücken. Doch kurz darauf wurde ich wieder ernst. „Also, wie erreichen wir Merlin?“
„Merlin, Sohn von Merlin“, verbesserte Wynn mich mit einem Zwinkern. „Du weißt doch, wie er sich jedes Mal aufregt, wenn man das vergisst.“
Ich nickte grinsend. Merlin konnte wirklich etwas eigen sein, was seinen Namen anging.
„Und wenn wir einfach so tun, als hätten wir wieder ein Problem mit unseren Zauberstäben? Vielleicht lassen sie ja den ganzen Tag Konfetti regnen oder so.“
Gesagt, getan. Wir füllten das Kontaktformular auf Merlins Internetseite aus und warteten. Doch Merlin war heute wohl extrem beschäftigt, oder aber er nahm uns die Geschichte von den Konfetti-sprühenden Zauberstäben nicht so ganz ab, denn es dauerte fast zwei Stunden, bis er schließlich auftauchte.
„Ich höre, es gibt ein Problem mit euren Zauberstäben?“ Bei diesen Worten zog er kritisch eine Augenbraue hoch.
„Also eigentlich, Merlin... ich meine, Merlin, Sohn von Merlin“, fügte ich hastig hinzu, „sind wir auf der Suche nach einer wichtigen Information, die meiner Geisterjägerpartnerin eventuell sogar das Leben retten könnte. Es geht um zwei Magier.“
Merlin sah kritisch zwischen Wynn und mir hin und her. Schließlich seufzte er. „Also ist mit euren Stäben alles okay? Dachte ich es mir doch. Meine Zauberstäbe sind viel zu gut, als dass sie einfach so aus heiterem Himmel Konfetti sprühen. Beim nächsten Mal etwas mehr Kreativität, wenn ich bitten darf.“ Er zögerte einen Moment. „Eigentlich würde ich jetzt einfach so wieder gehen. Aber da ich deine kleine Partnerin eigentlich ganz drollig finde, tue ich euch den Gefallen. Obwohl ich euch nicht versprechen kann, dass ich helfen kann.“ Nach diesem Monolog klingelten mir erstmal die Ohren und auch Wynn blickte unbehaglich drein. Müsste man Merlins Stimme beschreiben, dann würde ich sagen, es war wie eine Mischung aus über eine Schiefertafel kratzenden Fingernägeln, einem Verschlag voller Singvögel, die alle in unterschiedlichen Tonarten zwitscherten und einer ganzen Horde wütender Rentner, die alle synchron ‚Ruhe‘ brüllten.
Schließlich hörten meine Ohren auf zu klingeln und ich konnte das Gespräch wieder aufnehmen. „Die beiden heißen Jaropolk und Ke’Indra. Wir gehen davon aus, dass sie scheinbar nicht altern, und bereits viele Jahre alt sind. Sie sind definitiv keine Vandraren. Wir können eigentlich nur mit Sicherheit sagen, dass die beiden ebenfalls Geisterjäger sind.“
Merlin zog die Stirn kraus. „Jaropolk? Ke’Indra?“, fragte er dann mit seiner fiependen Stimme, die mir sofort wieder einen Schauer über den Rücken jagte.
Sadwyn nickte. „Wisst Ihr etwas über sie?“, fragte er dann, als Merlin keine Anstalten machte zu antworten.
Merlin sah reichlich verdrießlich drein. Schließlich gab er zerknirscht zu: „Tut mir leid. Von denen hab ich noch nie gehört.“
Ich seufzte. Schade. Merlin schüttelte noch einmal mit Nachdruck den Kopf und machte sich daran, wieder aufzubrechen. „Tut mir leid, dass ich nicht weiterhelfen konnte. Schönen Tag noch.“ Und weg war er.
Doch kaum, dass Merlin wieder verschwunden war, zog sich plötzlich alles in mir schmerzhaft zusammen. Ich war mir nicht mal sicher, woher, doch auf einen Schlag überlief mich die eisige Gewissheit, dass meine kleine Geisterjägerpartnerin in akuter Gefahr schwebte... Wo war sie nur? Ich sah auf mein Handy. Nichts. Ich versuchte zu spüren, wo sie sich gerade aufhielt. Ohne Erfolg. Ich tigerte in Sadwyns Wohnzimmer auf uns ab, während mein Cousin mich besorgt musterte. Doch auch er konnte mir nicht wirklich weiterhelfen und in Gedanken verfluchte ich mich tausendfach dafür, dass ich sie nicht besser beschützt hatte...
von Tamina
Lecker. Vanille. Mein Lieblingseis. Das hätte ich normalerweise bei dem Gedanken daran, mit meiner besten Freunden Marie zu unserer hiesigen Eisdiele zu gehen, gesagt. Und dennoch suchte ich nun verzweifelt nach einer Ausrede, um mit ihr gerade nicht an diesen Ort gehen zu müssen. Es wäre nicht so gewesen, als ob ich plötzlich eine Abneigung gegen Eiscreme entwickelt hätte. Es war der bloße Gedanke daran, zu unserem Marktplatz zu gehen, der mich erzittern ließ. Ich hatte Jaropolk und Ke’Indra in den letzten Wochen und Monaten mehrfach gesichtet. Aber am nächsten waren sie mir immer auf dem Markt gekommen.
„Ach komm schon, bitte“, sagte Marie und grinste mich an. Es war wiedermal ein warmer Morgen und wir saßen wiedermal draußen im Schulhof und frühstückten.
Ich seufzte, während ich mein eigenes Pausenbrot auspackte. Vielleicht war es okay? Ich hoffte, dass meine beiden Verfolger nicht jeden einzelnen meiner Schritte überwachten und so konnte ich hoffentlich diesen kleinen Trip mit meiner besten Freundin wagen? „Okay“, hörte ich mich selbst sagen, bevor ich allzu lange darüber nachgrübeln konnte.
Marie lächelte und erwiderte: „Super! Wollen wir uns um drei treffen?“
Ich nickte und sie lachte.
Am Nachmittag machte ich mich auf den Weg zur Eisdiele. Unterwegs versuchte ich, das mulmige Gefühl in meinem Bauch zu ignorieren. Deshalb gab ich mir auch die größte Mühe, Marie enthusiastisch anzugrinsen, als ich sie schließlich traf. Sie lachte zurück und wir setzten uns. Schließlich entspannte ich mich ein bisschen und wir begannen zu quatschen.
„Wie geht’s eigentlich deiner Familie?“, fragte Marie mich nach einer Weile.
Ich kicherte, als ich antwortete: „Oh, denen geht’s gut. Mia ist immer noch total stolz darauf, endlich ein Schulkind zu sein. Und meine Oma Ariana ist gerade aus dem Urlaub zurückgekommen. Ich glaube, sie war irgendwo am Mittelmeer oder so. Und sie hat mir erzählt, dass sie demnächst einen Ausflug nach Dresden machen will. Weißt du, weil sie dort geboren ist und einen Teil ihrer Kindheit dort verbracht hat.“
Marie blickte mich neugierig an. „Das wusste ich nicht“, gab sie schließlich zu.
Ich nickte. „Doch, sie hat bis zum Zweiten Weltkrieg da gelebt. Bis Dresden im Februar 1945 bombardiert wurde. Nachdem ihre Eltern gestorben waren, wuchs sie hier im Erzgebirge bei ihrem Onkel und ihrer Tante auf.“ Ich seufzte.
Wir saßen für einen Moment still da, bevor ich das Thema wechselte. „Hast du eigentlich unsere Chemiehausaufgaben verstanden?“, fragte ich und zog eine Augenbraue hoch. „Ich hab nicht ein einziges Wort unserer Lehrerin kapiert.“ Jetzt grinste ich entschuldigend.
Marie kicherte ebenfalls, als sie erwiderte: „Sorry, nicht wirklich. Ich denke, ich werde einfach unsere Klassensprecherin Doris fragen. Sie ist super gut in Chemie; vielleicht kann sie es mit ja erklären.“ Das klang nach einem guten Plan und so nickte ich.
Nachdem wir unser Eis aufgegessen hatten, stand Marie auf, um ihr Fahrrad zu holen. Ich auf der anderen Seite blickte auf meine Uhr, nur um festzustellen, dass ich noch mehr als zwanzig Minuten Zeit hatte, bis mein Bus kam. Marie und ich verabschiedeten uns und ich machte mich langsam auf den Weg über den Marktplatz. Dann wurde mir plötzlich klar, dass ich ja nun ganz alleine war. Ich blickte mich um. Auf den ersten Blick konnte ich nichts Ungewöhnliches sehen. Aber als ich mich erneut umblickte, bemerkte ich plötzlich zwei Gestalten, die am anderen Ende des Marktes scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht waren. Ich erstarrte, schloss die Augen, atmete tief durch und hoffte, dass ich hier nur gerade eine sehr lebensechte Halluzination hatte; doch tief in mir drin wusste ich es besser. Ich öffnete die Augen wieder. Die beiden waren noch da.
Obwohl sie noch ein ganzes Stück entfernt waren, erkannte ich sie sofort. Sie verströmten eine eiskalte Entschlossenheit, die man nie wieder vergaß, hatte man sie einmal gespürt. Gleichzeitig waren sie wie üblich so schick angezogen, als seien sie auf dem Weg zu einer Gala. Jaropolk und Ke’Indra. Und sie kamen schnell auf mich zu. Mit gezückten Zauberstäben. Instinktiv drehte ich mich um und rannte in die andere Richtung. Ich musste hier weg! Direkt vor mir zweigte eine schmale Gasse vom Markt ab. Ich blickte zurück und sah, dass Jaropolk und Ke’Indra mir immer noch folgten. Ohne einen zweiten Gedanken rannte ich in die Gasse hinein.
Der abrupte Wechsel von hell zu dunkel war wahrscheinlich der Grund, warum ich für einen Moment nichts mehr sehen konnte. Dennoch rannte ich weiter und zückte auch meinen Zauberstab, nur für den Fall. Dann wurde mein Sprint plötzlich schmerzhaft von einem Hindernis gestoppt. Ich bekam nur mit, dass sich die Welt auf einmal um mich herum drehte und ich Sekundenbruchteile später auf dem Boden lag. Schließlich hatten sich meine Augen an das dämmrige Licht gewöhnt und ich konnte sehen, was mich gestoppt hatte. Oder besser gesagt, wer. Neben mir stand ein Mann, der mich mit besorgtem Blick musterte. Zunächst war ich erleichtert, dass es nicht Jaropolk war. Doch kurz darauf erstarrte ich vor Schreck. Da stand ein komplett Fremder neben mir und ich lag hier mit gezücktem Zauberstab!
Ich versuchte aufzustehen. Der Fremde hielt mir die Hand hin und half mir auf. Als ich neben ihm stand, blickte er mich kritisch an. Ich starrte zurück. Keiner sagte ein Wort.
„Geht’s dir gut?“, fragte er schließlich.
Ich nickte und blickte gleichzeitig über meine Schulter zurück. Die Gasse hinter mir war noch leer, doch ich war mir sicher, dass Jaropolk und Ke’Indra hier jeden Augenblick auftauchen mussten. Ich sah zurück zu meinem Gegenüber.
„Dafür siehst du aber reichlich gestresst aus“, kommentierte er. „Verfolgt dich jemand?“
Ich schluckte schwer. Dann antworte ich zögerlich: „Ähm... irgendwie schon.“ Währenddessen suchte ich verzweifelt nach einem Ausweg. Aber wie sollte ich das machen? Ich konnte mich schließlich schlecht vor den Augen dieses Fremden hier in Nichts auflösen! Dann kam mir ein alarmierender Gedanke; was war, wenn dieser Fremde ein Komplize von Jaropolk und Ke’Indra war? Ich war mir sicher, dass ich ihn noch nie hier gesehen hatte. Aber andererseits, wenn er wirklich mit den beiden zusammenarbeiten würde, würde er mich wohl nicht so unsicher, vielleicht sogar verblüfft, mustern.
„Kann ich dir irgendwie helfen?“, fragte er.
Und in diesem Moment hörte ich ein angsteinflößendes Geräusch. Jaropolk und Ke’Indra kamen näher und es würde nur noch Sekunden dauern, bis sie die Gasse erreicht hatten. Der Fremde schob sich eine Strähne hinters Ohr und blickte nun ebenfalls Richtung Marktplatz.
Einen Sekundenbruchteil, bevor meine Verfolger in die Gasse traten, wirkte ich ohne nachzudenken den Zauber, der mich unsichtbar machen würde. Und verfluchte mich im selben Moment dafür. Wie hatte ich nur so dumm sein können, vor den Augen dieses Fremden Magie zu nutzen? Dennoch wusste ich auch, dass ich im Moment andere Probleme hatte.
Jaropolk und Ke’Indra betraten die Gasse mit siegessicherem Grinsen. Doch dieses verwandelte sich schnell in unverhohlenes Erstaunen, als sie realisierten, dass die kleine Straße bis auf den Fremden leer war. Sie blickten sich um und konnten mich offensichtlich nicht entdecken.
Schlussendlich fragte Jaropolk: „Entschuldige, aber hast du hier manchmal... ein junges Mädchen vorbeilaufen sehen? Braune Augen? Und ebenso braune Haare?“
Der Fremde blickte die beiden selbstsicher an. Falls er sich fragte, wohin ich denn bitte verschwunden war, so schaffte er es, das nicht zu zeigen. Unwillkürlich hielt ich den Atem an. Schließlich entgegnete er: „Nein, ich habe niemanden gesehen.“
Jaropolk zog eine Augenbraue hoch. „Bist du sicher? Sie muss hier durchgekommen sein!“
Jetzt hob der Fremde theatralisch die Arme und erwiderte: „Wie ich bereits sagte, ich habe hier niemanden gesehen. Und da die Gasse hier nicht gerade breit ist, wäre sie wohl nicht so ohne Weiteres an mir vorbeigekommen. Also, es tut mir leid, aber ich kann euch leider nicht helfen. Vielleicht solltet ihr woanders nach ihr suchen. Schönen Tag noch!“
Bei diesen Worten hatte er sich desinteressiert abgewandt. Ich war komplett baff.
Jaropolk und Ke’Indra ihrerseits wohl auch. Sie blieben noch einen Moment stehen und schauten sich irritiert an, doch der Auftritt dieses mysteriösen Fremden musste sie wohl schlussendlich davon überzeugt haben, dass ich tatsächlich nicht hier war und sie verließen die Gasse.
Der Fremde seinerseits drehte sich um und folgte ihnen zum Ausgang der Gasse, nachdem die beiden verschwunden waren. Von dort aus blickte er sich kurz auf dem Markt um.
Schließlich nickte er leicht und sagte: „Sie sind weg, du kannst rauskommen. Wo auch immer du steckst.“ Bei diesen Worten wandte er sich grob in meine Richtung um.
Ich schluckte und wirkte dann den Zauber, der mich wieder sichtbar werden lassen würde. Ich blickte den Fremden an. Er musterte mich seinerseits.
Nach einem Moment der Stille sagte er: „Keine Sorge, ich will gar nicht wissen, wie du das angestellt hast. Aber meiner Meinung nach solltest du lieber von hier verschwinden, bevor sie zurückkommen.“
Plötzlich fuhr der Wind mit einer heftigen Bö durch unsere Gasse. Bevor ich mich endgültig umwandte, sah ich dem Fremden noch einmal tief in die Augen und hauchte leise: „Danke.“ Dann wandte ich mich um und lief los.
Ich wusste nicht, wohin. Vielleicht konnte ich mir nach Cardiff translokaliseren? Die Frage war nur, ob ich die Zeit hatte, stehenzubleiben und mich ausreichend zu fokussieren, um den Zauber richtig auszuführen. Ich rang nach Atem und spürte, wie ich langsamer wurde. Warum musste ich nur so unsportlich sein? Ich rannte durch die schmalen Gassen und hatte komplett die Orientierung verloren. Schlussendlich dachte ich an Arwan. Ich wäre so froh, wenn er kommen und mir helfen könnte. Und vielleicht auch Sadwyn mitbringen könnte. Schließlich konnte ich nicht mehr und blieb stehen. Arwan, wo bist du?, dachte ich verzweifelt. Genau in dieser Sekunde materialisierten sich plötzlich zwei Schatten neben mir. Ich schrie auf. Oh nein... ich war zu langsam gewesen...
von Sadwyn
„Tamina!“, rief mein Cousin, als wir sie endlich gefunden hatten. Aber offensichtlich hatte sie nicht damit gerechnet, dass wir plötzlich und ohne Ankündigung direkt vor ihr auftauchen würden, denn sie schrie auf und wirkte, als ob sie zu Tode erschrocken sei. Dann realisierte sie offenbar, dass es nur Arwan und ich waren, die da neben ihr erschienen waren und sie entspannte sich ein bisschen. Ich war nur erleichtert, dass sie keinen Explosionszauber auf uns losgelassen hatte. Obwohl rein theoretisch eigentlich nichts passieren sollte, war ich nicht wirklich scharf darauf, es auszuprobieren.
„Arwan! Wynn!“, rief Tamina aus. „Sie sind hier! Jaropolk und Ke’Indra! Ich hab sie ein paar Straßen weiter gesehen!“ Sie senkte die Stimme und fuhr fort: „Ich hab es geschafft sie abzulenken, aber ich wette, dass sie noch nach mir suchen.“ Sie erzitterte.
Arwan und ich tauschten einen besorgten Blick. Also hatte mein Cousin tatsächlich recht gehabt; Tamina war in Gefahr gewesen. Woher hatte er das nur gewusst? Ich versuchte zu rekonstruieren, was passiert war, direkt bevor mein Cousin und ich uns hierher translokalisiert hatten: nachdem Merlin, Sohn von Merlin, verschwunden war, war Arwan plötzlich aufgesprungen und hatte mich so entsetzt angeblickt, als hätte jemand versucht, seine Gitarre in die Luft zu jagen. Die einzigen Worte, die er zu mir gesagt hatte, waren: ‚Tamina. Etwas stimmt nicht. Sie ist in Gefahr. Wir müssen sie finden!‘
Ich hatte nicht wirklich eine Ahnung gehabt, wie er sich da so sicher sein konnte, und hatte nichts dazu gesagt. Arwan war durch unser Wohnzimmer getigert in dem verzweifelten Bestreben zu ‚spüren‘, wo seine junge Partnerin war. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass mein Cousin ein wirklich talentierter Zauberer war, hätte ich ihn an diesem Punkt offiziell für bekloppt erklärt. Denn ihr müsst wissen, dass es absolut nicht möglich ist, jemanden auf eine so große Entfernung zu ‚spüren‘ – selbst für uns Vandraren. Dennoch hatte Arwan ein paar Augenblicke lang die gegenüberliegende Wand angestarrt, bevor er plötzlich ausgerufen hatte: „Sie ist in ihrem Heimatort. Oder zumindest irgendwo in der Nähe. Und sie hat Angst. Wir müssen uns beeilen!“ Darauf folgte eine ganze Reihe von Schimpfwörtern, die sogar mich hätten erröten lassen, wäre ich dazu noch wie ein normaler Mensch in der Lage gewesen. Stattdessen hatte ich meinen Cousin irritiert angeblickt und war aufgestanden. Sowie ich neben ihm gestanden hatte, hatte er meine Hand genommen und wir hatten uns translokalisiert. Nur Sekundenbruchteile danach waren wir neben Tamina aufgetaucht.
„Dann sollte ihnen einer von uns folgen“, drängte Arwan nun und ich nickte. „Vielleicht erwischen wir sie ja diesmal endlich“, fügte er noch hinzu. Wir hatten so oft versucht, die beiden gefährlichen Geisterjäger zu fangen, aber sie waren jedes Mal einfach zu schnell abgehauen. Falls sie nun also noch nach Tamina suchten, könnte das unsere Chance sein.
Dennoch konnte ich im gleichen Atemzug sehen, dass Tamina uns komplett schockiert anblickte. Sie wollte nicht, dass wir in Gefahr gerieten und obwohl sie wusste, dass Arwan und mir in der Theorie relativ wenig passieren konnte, war sie entsetzt, dass wir nun im Begriff waren, auf die Jagd nach ihren beiden Verfolgern zu gehen. Automatisch strich sie über die Narbe an ihrem rechten Unterarm und zog die Stirn kraus.
„Ich werde gehen“, sagte Arwan neben mir und Tamina erstarrte vor Schreck.
„Nein“, flüsterte sie und blickte ihn verzweifelt an, „bitte Arwan, geh nicht! Du weißt, wie verrückt die zwei sind..."
„Tamina, hör mir zu“, unterbrach Arwan sie verzweifelt, „das könnte unsere Chance sein, das alles hier zu beenden. Dich endlich vor ihnen in Sicherheit zu bringen. Aber ich kann nicht mehr länger warten oder sie sind weg. Ich hab schon gegen sie gekämpft, ich weiß, was mich erwartet.“ Damit wollte er verschwinden, doch Tamina nahm seine Hand, als könnte sie ihn damit davon abhalten, zu gehen. Arwan seufzte und sagte: „Tamina. Wir müssen sie finden! Oder du wirst vermutlich nie wieder sicher sein!“
Für einen Moment schien Tamina tief in Gedanken versunken zu sein. Plötzlich blickte sie entschlossen drein. Sie holte tief Luft und entgegnete: „Dann komme ich mit. Ich habe es satt, noch länger Angst zu haben.“
Arwan schüttelte heftig den Kopf. „Auf gar keinen Fall! Du hast zwar schon viel gelernt, aber du bist noch nicht soweit!“
Bevor er noch ein weiteres Wort sagen konnte, unterbrach ich ihn: „Und deshalb werde ich gehen. Du bleibst hier bei Tamina.“ Und bevor mein Cousin mir widersprechen konnte, war ich verschwunden.
Langsam streifte ich durch all die schmalen Gassen, auf der Suche nach dem kleinsten Anzeichen von Jaropolk und Ke’Indra. Ich ging sogar zurück zum Marktplatz, doch ich hatte kein Glück. Einen Augenblick lang hatte ich das Gefühl gehabt, ihre Magie ganz in meiner Nähe gespürt zu haben, aber dieses Gefühl verschwand ebenso schnell, wie es gekommen war. Arwan hatte mir indes eine kurze Nachricht geschrieben um mir mitzuteilen, dass er sich mit Tamina nach Cardiff translokalisiert hatte, damit sie wenigstens erstmal in Sicherheit war. Ich war zwar erleichtert, dass sie nicht länger in Gefahr schwebte, fühlte mich jedoch auch selbst ein bisschen verunsichert. Der Markt und die kleinen Gässchen waren seltsam leer; ich traf nicht auf ein einziges anderes menschliches Wesen, ganz zu schweigen von den beiden, die ich so verzweifelt suchte. Es war nun fast ein Jahr her, dass ich Tamina zum allerersten Mal gegen die beiden Geisterjäger verteidigt hatte. Ironischerweise war das genau hier gewesen, hier auf diesem Marktplatz. Geschichte konnte manchmal grausam ironisch sein.
Und nun war ich ein weiteres Mal hier und suchte die beiden erneut. Aber je länger ich durch die Straßen lief, desto mehr wuchs in mir die Gewissheit, dass meine Suche vergebens war. Schlussendlich, nach mehr als einer halben Stunde, stellte ich die Suche ein. Sie waren weg. Mal wieder. Ich seufzte und translokalisierte mich zurück nach Cardiff. Arwan würde definitiv nicht begeistert sein.
„Es tut mir leid“, seufzte ich, sobald ich in Cardiff anlangte, „aber ich konnte sie nicht finden.“
Arwan nickte und spielte geistesabwesend mit seinem ledernen Armband. „Ich schätze, sie hatten uns bereits gespürt und sind abgehauen“, gab er dann zurück. Schließlich sah er mir in die Augen. In diesem Moment konnte ich seine Hilflosigkeit, seine eigene Unsicherheit und seine Verzweiflung ob der Situation nur zu deutlich spüren. Er sagte kein einziges Wort, und doch verstand ich seine stille Frage: Werden wir sie jemals besiegen können? Ich seufzte. Schließlich senkte ich den Blick. Ich wusste es nicht.
Tamina saß derweil auf meiner Couch und starrte aus dem Fenster. Sie schien tief in Gedanken versunken zu sein. Dennoch sah ich, dass es ihr schwer fiel, Tränen zurückzuhalten. Arwan folgte meinem Blick. Er ging zu ihr und setzte sich neben sie. Tamina lehnte vorsichtig ihren Kopf gegen seine Schulter. „Es tut mir leid“, flüsterte sie schließlich.
Arwan schüttelte den Kopf. „Du hast nichts falsch gemacht.“ Für einen Moment kämpfte er sichtlich darum, sich zusammenzureißen. „Wir hatten Glück, dass sie dich nicht verletzt haben. Das ist alles, was im Moment zählt.“
Dennoch blickte Tamina ihn nun verzweifelt an und eine einsame Träne floss ihre Wange herab. „Nein“, seufzte sie, „nein, ich habe etwas falsch gemacht. Sehr falsch.“ Sie zögerte einen Moment, bevor sie fortfuhr. „Ich habe vor den Augen eines Fremden Magie angewendet. Es war nur so... Jaropolk und Ke’Indra haben mich verfolgt und ich musste mich verstecken und deshalb hab ich den Unsichtbarkeitszauber gewirkt, aber dieser Mann war auch da in der schmalen Gasse und er hat mich gesehen und dann hat er...“
„Shhhhh“, unterbrach Arwan sie an dieser Stelle. Dann überlegte er einen Moment. „Kennst du ihn?“, fragte er schließlich.
Tamina schüttelte den Kopf. „Nein, es war vermutlich nur ein Tourist.“
„Und weiß er irgendetwas über dich?“, fragte ich. „Zum Beispiel deinen Namen oder wo du herkommst oder, dass du eine Geisterjägerin bist?“, fuhr ich fort.
Tamina schüttelte erneut den Kopf. „Nein“, flüsterte sie.
Ich entspannte mich etwas und sagte daher: „Mach dir keinen Kopf. Das ist Arwan und mir auch schon passiert. So, wie ich es sehe, ist die Chance extrem gering, dass du ihn jemals wiedersehen wirst und wir können annehmen, dass er die Geschichte entweder komplett vergessen wird oder einfach annimmt, dass es ein blöder Streich war.“
Tamina sah nicht wirklich überzeugt aus, doch sie nickte und entspannte sich etwas. Dennoch wirkten die beiden hier vor mir so hoffnungslos, dass ich das Bedürfnis hatte, sie ein kleines bisschen aufzubauen.
„Wisst ihr“, begann ich und fing an, vor den beiden auf und ab zu tigern. „Ich bin mir sehr deutlich bewusst, dass die Situation gerade alles andere als normal ist. Aber wir dürfen die Hoffnung jetzt nicht verlieren. Ihr beide, ihr habt zusammen schon so viel durchgestanden. Ihr habt so viele Prüfungen gemeistert und ich bin regelmäßig geplättet, wie ihr es schafft, solch mutige Geisterjäger zu sein. Gebt jetzt nicht auf. Weder jetzt, noch in der Zukunft. Denn wenn ihr aufhört, daran zu glauben, dass wir einen Weg aus diesem ganzen Mist hier finden können, dann werden wir ihn sicherlich auch nicht finden. Gebt niemals auf! Ich könnte es nicht ertragen, meine besten Freunde auf diese Weise zu verlieren!“
Ich blickte die beiden an und hoffte, dass ich sie etwas aufmuntern konnte.
Schließlich sah Tamina mich an und fragte: „Glaubst du wirklich, wir können einen Ausweg finden?“
Ich nickte mit Nachdruck und erwiderte: „Ja, das tue ich.“
Jetzt lächelte sie ein wenig und auch Arwan sah nicht mehr ganz so hoffnungslos aus. Das war eine große Erleichterung. Wenn es eine Sache auf der Welt gab, die für einen Vandraren gefährlich werden konnte, dann was es Hoffnungslosigkeit.
Schließlich stand mein Cousin auf und sagte: „Lasst uns loslegen!“
von Tamina
Nachdem der ganze Spuk vorbei war, saß ich ein weiteres Mal draußen im Garten meiner Familie. Es war erneut eine warme und sternenklare Nacht. Ich seufzte. Während der letzten Tage war so viel geschehen, dass ich mich davon komplett überfahren fühlte. Es war passiert. Ich hatte schon eine ganze Weile eine lauernde Gefahr gespürt, aber nun war ich mir absolut sicher, dass meine finale Konfrontation mit Jaropolk und Ke’Indra nah war. Sehr nah. Ich wusste nicht, wann es passieren würde, aber schlussendlich würde es auf die ein oder andere Weise passieren. Und ich hatte schreckliche Angst. Heute war ich glimpflich davongekommen, doch wer wusste schon, was als Nächstes geschehen würde? Und außerdem fühlte ich mich immer noch ziemlich mies, weil ich Magie vor den Augen von jemandem angewendet hatte, der selbst kein Zauberer war. Ich hätte einen anderen Weg finden können, auch wenn mir eine leise Stimme in meinem Kopf flüsterte, dass es in der Tat nur wenige Alternativen gegeben hatte, hatte ich nicht riskieren wollen, von Jaropolk und Ke’Indra direkt angegriffen zu werden. Und ich würde diesen Fremden ganz bestimmt nicht wiedersehen. Dennoch. Ein Außenstehender wusste über meine magischen Fähigkeiten Bescheid... welche Konsequenzen würde das wohl eines Tages haben?
Plötzlich hatte ich den Eindruck, direkt neben mir ein Geräusch gehört zu haben. Ich sah mich um und erhob mich dann langsam von der Schaukel meiner Schwester. Irgendwie klang dieses Zischen vertraut. Ich blickte mich um, bis ich schließlich fand, was ich gesucht hatte. Oder genauer gesagt, wen. Der kleine Igel war zurückgekehrt. Er saß nur ein paar Schritte entfernt, geschützt von unseren hohen Koniferen, und sah mich an. Ich näherte mich dem Igel und kniete mich vor ihm hin. Ich war mir absolut sicher, dass das hier derselbe Igel war, dem ich schon mehrfach begegnet war. Er rührte keinen Muskel und schien auch keine Angst zu haben. Erkannte mich der Igel etwa wieder? Ich sah genauer hin. Der Igel blickte zurück. Ich vermutete, dass er um einiges gewachsen sein musste, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Der Igel blickte mich nach wie vor an. Ohne darüber nachzudenken, setzte ich mich neben ihn. Für einen Moment sah ich hoch zu den Sternen. Ich hatte noch nie wirklich über die Natur von Igeln nachgedacht, aber in diesem Moment kam mir der Gedanke, dass wir uns doch irgendwie ähnlich waren. Der Igel hatte seine Stacheln als Schutz. Ich musste an Jaropolk und Ke’Indra denken, was die Frage aufwarf: was war mein Schutz? Wieder trafen sich unsere Blicke und ohne einen zweiten Gedanken begann ich, meinem kleinen Igel von meinen jüngsten Erlebnissen zu erzählen. Ich wusste nicht, ob er meine Gefühle verstand, aber er saß still da und schien zuzuhören. Und so saßen wir beide unter den Sternen in friedvoller Stille. Zwei Wesen, die eigentlich überhaupt nicht zusammengehörten und deren Wege sich nun doch für einen kurzen Augenblick der Geschichte gekreuzt hatten. Es war eine surreale Erfahrung, wie geschaffen für eine kurze Geschichte. Eine Geschichte von Sternen und Igeln.
von der Autorin
Ein kleiner Raum. Zwei junge Männer treten ein und sehen sich suchend um. Kurz darauf kommt eine junge Frau dazu und die drei – es sind die Hauptfiguren unserer Geschichte – begrüßen sich.
Tamina: „Hi Leute, wie geht’s?"
Sadwyn: „Passt schon. Außer, dass ich hierfür WIEDERMAL extra vom Surfen anrücken musste. Denkt ihr, dass unser Meeting oder Interview oder was auch immer das hier wird, heute wie geplant stattfindet?“
Arwan: „Ich hoffe es.“
Tamina: „Seid ihr bereit?”
Sadwyn: „Immer! Und falls wir doch mal eine Frage nicht beantworten können, dann könnte ich einfach eines meiner letzten Abenteuer erzählen, ihr wisst schon, als ich in Biarritz war und...“
Arwan: „... Jeder wird sofort schreiend wegrennen. Wynn, das wird IMMER NOCH kein Surferguide.”
Tamina: „Genau. Es wird um unsere Geschichte gehen. Unsere Abenteuer. Die bald in einem richtigen Buch erscheinen. Oh Hilfe, ich kann nicht glauben, dass wir das wirklich machen.“
Sadwyn: „Höre ich da etwa Unsicherheit? Ich dachte, all das war ursprünglich deine Idee. Du weißt schon, der Welt von Vandraren zu erzählen.“
Arwan: „Hey, wir haben in den letzten Wochen alle einiges durchgemacht. Es ist okay, sich unsicher zu fühlen.”
Sadwyn: „Entspann dich. Wollen wir uns hinsetzen? Da drüben ist eine Couch. Oh und guck mal, sie haben sogar einen Sessel!“
Arwan: „Jetzt ist er glücklich.”
Plötzlich betritt eine weitere Person den Raum. Es ist eine junge Frau mit verwuschelten Haaren und einem Notizbuch in der Hand, noch ganz außer Atem.
Tamina: „Oh, hi Michelle. Toll, dass du es geschafft hast!”
Michelle: „Hi, danke für eure Zeit.”
Sadwyn: „Schön, dich zu sehen. Wie geht’s dir?“
Michelle: „Mir geht’s gut, danke. Hoffe, bei euch ist auch alles okay?“
Tamina: „Ich bin ein kleines bisschen nervös, aber ansonsten, glücklicherweise ja. Das ist unser letztes Treffen, bevor die Veröffentlichung abgeschlossen ist, oder?“
Michelle: „Ja. Das Buch wird bald überall erhältlich sein und ich möchte sichergehen, dass wir alles erledigt und... bedacht haben.“
Arwan: „Keine schlechte Idee. Lasst uns zu der Couch gehen und uns setzen.”
Tamina: „Gern.”
Arwan: „Also, so wie ich es sehe, haben wir alle essentiellen Komponenten. Der Text ist vorbereitet, das Cover ist fertig und...“
Sadwyn: „Ist das nicht alles, worauf es ankommt? Sorry, aber ich habe noch nie zuvor ein Buch veröffentlicht. Und wenn wir schon beim Text sind – ist eigentlich die eine Geschichte drin, ihr wisst schon, als ich Tamina zum allerersten Mal getroffen hab? Als wir in ihrem Heimatort waren und...“
Michelle: „Sadwyn, könntest du bitte der Welt noch nicht alles verraten, was in dem Buch passiert? Die Leute sollen das eigentlich selber lesen.”
Tamina: „Eigentlich gibt es noch einiges mehr, das bedacht werden will. Unsere Webseite ist fertig?”
Michelle: „Nur seit gerade mal einem Jahr.”
Sadwyn: „Und wie steht es mit dem Buchtitel – Hast du uns den eigentlich schon verraten? Und das Marketing? Und der Verleger? Und hast du auch... “
Michelle: „Sorry, Wynn, könntest du bitte etwas langsamer sprechen? Ich würde das gern mitschreiben, um daraus eine Art Epilog für unsere aktuelle Kurzgeschichtenserie zu entwickeln.“
Sadwyn: „Ups, sorry. Vielleicht sollten wir eine Pause machen? Dein Füller sieht aus, als würde er gleich Feuer fangen.“
Michelle: „Nein danke, alles gut. Tatsächlich haben wir den Buchtitel noch nicht enthüllt, aber du hast recht, es ist an der Zeit. Das Buch wird den folgenden Titel tragen:
The Vandraren Stories: Buch I – Geisterjäger.”
Sadwyn: „Das war jetzt aber nur ein deutscher Titel, oder?"
Michelle: „Genau, vorerst wird das Buch nur auf Deutsch publiziert werden. Vielleicht können wir eines Tages einmal eine englische Version herausbringen. Mal schauen. Gibt es noch etwas, worüber wir reden müssen?“
Sadwyn: „Nö, ich denke, wir haben alles doppelt und dreifach überprüft. Ich meine, der Inhalt sollte korrekt sein und solange du alle Namen richtig geschrieben hast... Arwan, warum machst du so komische Gesten, als ob du dir den Kopf abhacken wolltest? Und Michelle, wieso schaust du so drein, als ob du versehentlich in einen Topf mit kochendem Wasser gesprungen wärst? Hab ich was verpasst?“
Arwan: „Glaub mir, Namen sind gerade kein gutes Thema. Definitiv nicht.“
Sadwyn: „Ähm okay. Du hast mit allen Beteiligten gesprochen und alle notwendigen Einwilligungen eingeholt?“
Michelle: „Ja, hab ich.”
Arwan: „Mit wirklich allen?”
Michelle: „JA.”
Sadwyn: „Ich meine wirklich, wirklich jedem? Nicht, dass wir jemanden vergessen haben. Das wäre echt ärgerlich. Es sind ja echt einige Leute zu bedenken... die Illustratorin des Buchumschlages, die Leute beim Verlag, der M...“
Michelle: „Ja, habe ich. Anderes Thema: Denkt ihr, dass die Geschichte plausibel ist? Ich meine, ich habe alles genauso aufgeschrieben, wie ihr es mir erzählt habt. Aber ich hoffe, die Leute werden der Handlung folgen können.“
Arwan: „Nun, wir haben unser Bestes gegeben. Jetzt müssen wir sehen, wie sich alles entwickelt.“
Michelle: „Ihr müsst zugeben, dass einige Teile wirklich ganz schön abgedreht sind. Insbesondere das, was ihr mir für die letzten Kurzgeschichten erzählt habt. Mal so nebenbei gefragt, habt ihr eigentlich irgendwas über diesen Fremden herausgefunden?“
Arwan: „Nein, aber ich denke ehrlich nicht, dass wir ihn nochmal treffen und...”
Michelle: „Arwan, bist du sicher, dass ich das so aufschreiben soll? In geschriebenen Geschichten ist das immer ein ganz schrecklicher Cliffhanger, um anzuzeigen, dass man der betreffenden Person ganz sicher nochmal begegnen wird.“
Arwan: „Aber nicht morgen und ganz sicher auch nicht heute.”
Michelle: „Arrrgh, könnt ihr mir nicht einmal eine einfache, entspannte Geschichte erzählen, die man problemlos aufschreiben kann? Ich glaube, wenn ich das nächste Mal ein Buch schreibe, schreibe ich einfach über Steine. Die bewegen sich wenigstens nicht.”
Tamina: „Ach kommt schon, du würdest doch nach den ersten drei Sätzen einschlafen. Und ich glaube immer noch, dass man etwas aus der Geschichte mitnehmen kann. Lasst es uns einfach versuchen.”
Sadwyn: „Meine Daumen sind gedrückt. Sagt mal, stört es euch, wenn ich mich schon mal verabschiede? Ich hab ein paar Freunden am anderen Ende der Welt versprochen, dass ich in ein paar Minuten vorbeikommen würde.“
Arwan: „Ich schätze, das ist unser Zeichen, uns auch zu verabschieden. Bist du bereit, Tamina, unsere Geschichte auf die Welt loszulassen?“
Tamina: „Überhaupt nicht. Lasst uns loslegen.”
Michelle: „Danke für eure Zeit. Dann lasst uns aufbrechen ins Unbekannte...“
Heute Nacht
In der hellen Sterne Schein
Zwei Schiffe
Anmutig im Flug gen den vollen Mond sollen sein
Und immerdar folge ich unserem Lied
Auf dass Magie den Pfad, den ich wandle, umgibt