Horizont-2022

The Vandraren Short Stories:
Jenseits des Horizonts (2022)

Der nachfolgende Text basiert auf einer einer Geschichte von Michael Clemente mit dem Titel „Life On The Road“ und erschien
erstmals am 29.10.2014 in englischer Sprache im Rahmen eines Interviews für die Zeitschrift „Spaziorock“.


Der ursprüngliche Text ist verfügbar unter www.xilpadrino.com.

  • Jenseits des Horizonts (2022)

    von Arwan


    Es kommt nicht oft vor, dass man auf einen Weg wie den, auf den ich an jenem späten, bewölkten und feuchten Abend im Juli gestoßen bin, trifft. Bewölkt war eine Untertreibung; Die Luft war so schwer, dass man spüren konnte, wie die Wolken bei kurzzeitigen Windböen die Haut streiften. Luft so schwer, dass man einen Bissen herausnehmen und schmecken könnte, um den Rest für die belastenden Überreste des nächsten Tages aufzusparen. 

    Doch der Mond stand hoch oben auf seinem Posten am Himmel und brannte Porträts von Silhouetten mitten hinein in eine Leinwand aus stillen Sternen. Ich nahm an, dass diese Straße vor mir bei Tageslicht ganz anders aussehen musste, denn an diesem Abend schien sie wie eine beeindruckende Straße zu sein, voller dunkler Kurven und verdrehter Böschungen unbekannter Richtung, durchsetzt von den Schatten der Farne und den Kiefernnadeln, die diesen heiligen Weg säumten. Dies war mein erstes Mal auf dieser speziellen Straße, meine Angst war geblendet von den Reflexionen der Tautropfen, die sich auf teilweise verdorrten Grasstängeln in den weiten Feldern angesammelt haben, die den Weg zu verschlingen und zu verfestigen schienen, der uns letztendlich von all dem hier wegführen würde. 

    Die Felder waren karg, aber Leben war überall; es kroch und existierte in Mikrokosmen, die mit jeder großen modernen Vorstadtinfrastruktur konkurrieren würden. Die schwere Luft wirkte erstickend; sie ließ alle störenden hörbaren Störungen verstummen und verstärkte gleichzeitig die delikatesten aller Lieder - Ameisen, die Zweige trugen, Bäume, die sich im Wind wiegten, das sanfte Geräusch von Eulen, die in der Luft glitten, und Igel, die herauskrochen, um zu sehen, was all diese Aufregung zu bedeuten hatte. 

    Ich hatte bis zu dieser Nacht noch nie einen solchen Igel gesehen, und ich kann mit Sicherheit sagen, dass dieser Igel bis zu dieser Nacht auch mich noch nie gesehen hatte. Aber es war ein seltsamer Igel, der langsam mit Monokel und Stock über die Straße humpelte. Ich nahm an, das war typisch für die Region, aber ich staunte über die Idee, dass dieser Igel wirklich unabhängig war, inmitten einer vollständigen Gesellschaft anderer Wesen, die charakteristische Merkmale trugen, die mit einer Bowling-Mannschaft konkurrieren könnten. Ich für meinen Teil kann mich daran erinnern, wie seine winzigen Krallen Spuren in der kiesigen unbefestigten Straße hinterließen, die sich schnell zu Ton materialisierten, sobald die Abdrücke genug Zeit hatten, in der unerbittlichen Feuchtigkeit zu auszuhärten. 

    „Wie findet ein Igel seinen Weg durch so dicke Luft und dichten Nebel?“ Ich hätte angehalten, um ihn das zu fragen, aber er war schon wieder unterwegs, wahrscheinlich mit dem einzigen Zweck, Eulen zu vermeiden, die über ihm flogen und ihm seine Parade verhageln wollten. Apropos Hagel, so geschah es, als diese dunkle Straße zu Schlamm wurde, denn die sintflutartigen Regenfälle beschlossen, diese von Natur aus anspruchsvolle Party zu stören. Und mit dem Regen wurde das Lied der Bäume gedämpft, zusammen mit dem Gesang von Ameisen, die Zweige trugen, Eulen, die in der Luft glitten, sogar die Frösche mussten in Deckung gehen, aus Angst, dass auch ihr Lied durch diesen gewaltigen Aufruhr des Donners zum Verstummen gebracht werden würde. Blitze zuckten, aber nur kurz, um eine Momentaufnahme der Ferne vor mir zu liefern. Meine Verbindung zu dieser verdächtigen Straße wurde schnell zerstört, als der Blitz kurz die Silhouette einer Figur enthüllte, die viele Kilometer entfernt auf der Straße saß, genau wie ich dasaß, und in ein ledergebundenes Notizbuch mit der Feder eines Straußes schrieb, genau wie ich. Mein letztes Bild, bevor der Blitz verblasste, war die Silhouette eines Igels, der mit Monokel und Stock die Straße hinunterhumpelte und auf diese Figur zusteuerte, die viele Kilometer entfernt auf der Straße saß, genau wie ich dasaß, und in ein ledergebundenes Notizbuch mit der Feder eines Straußes schrieb, genau wie ich.

    Als das Bild verblasst war, stand ich langsam auf und seufzte. Mit einem letzten Blick in die Dunkelheit vor mir wandte ich mich ab und ging. Einen Sekundenbruchteil später landete ich im Wohnzimmer eines unscheinbaren und scheinbar völlig normalen Hauses in Cardiff, Wales. Das Zimmer war dunkel und auf den ersten Blick hätte man denken können, es sei leer. Nach der Aufregung, die ich gerade erlebt hatte, war es schockierend still. So still, dass man das kleinste Staubkorn auf den altmodischen Möbeln hätte landen hören können, wenn es irgendein Staubkörnchen gegeben hätte, das so waghalsig gewesen wäre.  Ich sah mich um und ging ein paar Schritte in Richtung der Tür auf der anderen Seite des Raumes. 

    „Was machst du hier?“, dröhnte plötzlich eine Stimme hinter mir.

    Langsam drehte ich mich um. Lichter flackerten auf und ich musste blinzeln, um meinen Blick zu fokussieren. Man hätte denken können, dass diese Szenerie gruselig hätte sein können, die perfekte Kulisse für einen Horrorfilm, der gerade dabei war, seinen Höhepunkt zu erreichen und zur einem der der gruseligsten Filme zu werden, die jemals produziert worden waren. Nur, dass die Dinge selten so sind, wie sie scheinen.

    „Und warum, um Gottes Willen, ruinierst du MEINEN TEPPICH?!“ Mein Cousin Sadwyn stand von seinem Lieblingsarmsessel auf, in dem er gesessen haben muss, als ich das Zimmer betreten hatte. Jetzt, da das Licht an war, konnte man deutlich sehen, dass der Raum alles andere als leer war. Ich schaute zurück zu meinem Cousin, der anklagend auf die Wasserpfütze starrte, die sich um mich herum gebildet hatte. Aber da wir Vandraren waren, ließen uns Dinge, die andere Leute vielleicht für seltsam gehalten hätten, relativ kalt; er fragte mich nicht, warum ich aussah, als wäre ich mit voller Klamotte ins Meer gesprungen, genauso wie ich ihn nicht fragen würde, warum er im Dunkeln gesessen und getan hatte, was auch immer er getan hatte.

    „Tamina hat geschrieben und gefragt, ob du einen Moment für sie hast“, teilte mir Sadwyn nun mit. Als er meinen offenkundig verwirrten Blick sah, breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus. „Dein Smartphone. Du hast es vergessen und ich war einfach zu neugierig.“ Er gab es mir, und mit dieser eindeutigen Erinnerung daran, dass ich im modernen 21. Jahrhundert lebten, verblassten die Erinnerungen an diese dunkle Straße, die ich nur wenige Augenblicke zuvor gegangen war.

    „Ich für meinen Teil bin erstmal weg. Bis später. Und trockne meinen Teppich“, fügte Sadwyn hinzu und verschwand.

    Ich verbiss mir ein Lächeln zurück, las Taminas Nachricht, tat, worum mein Cousin mich gebeten hatte – nun, was er mir befohlen hatte, um genau zu sein –, legte mein ledergebundenes Notizbuch und die Straußenfeder auf den Tisch und schon war auch ich wieder unterwegs. Mein nächstes Ziel führte mich in die Nähe eines kleinen Häuschens. Meine junge Geisterjägerpartnerin Tamina war gerade mit  ihrer Familie im  Sommerurlaub, der sie ein ganzes Stück von ihrem geliebten Erzgebirge weggeführt hatte. Während ich eine kurze Nachricht tippte, blickte ich mich um. Zum Glück regnete es hier nicht.

    Nach ein paar Sekunden hörte ich Schritte. Dann wurde die Gestalt meiner Teampartnerin im Dunkeln sichtbar und nur Augenblicke später stand sie neben mir. „Warum hast du gefragt, ob wir uns draußen treffen können und ...“ Sie untersuchte mich genauer, was etwas schwierig war, da es um uns herum komplett dunkel war „... Was hast du gemacht?  Du siehst aus als, ich weiß nicht,  hätte jemand hat einen Eimer Wasser über dir ausgekippt oder ...“ Sie brach ab und fing an zu kichern.

    Nun musste auch ich schmunzeln. 

    „Hast du nur an dasselbe gedacht wie ich?“, fragte sie. Es war nicht notwendig zu bestätigen, dass sie Recht hatte. Ich grinste immer noch, während meine Gedanken zurück in die Vergangenheit drifteten. Es war erst ein paar Wochen her, dass wir gemeinsam einen kurzen Ausflug ans Meer gemacht hatten und ...

    „Du hast mich ins Meer geworfen. Komplett. Mit meinen Klamotten“, schimpte Tamina, aber offensichtlich war sie nicht wirklich sauer, denn sie fügte schnell mit einem strahlenden Lächeln hinzu: „Das war cool. Können wir das nochmal machen?“

    Ich schüttelte den Kopf. „Erstens habe ich dich nicht geworfen, sondern nur ganz sanft eingetaucht, zweitens bin ich dabei genauso tropfnass geworden wie du und drittens, bevor wir das tun, kannst du mir sagen, was im Namen von allem, was heilig ist, wir hier draußen eigentlich machen? Nicht, dass es mir persönlich etwas ausmachen würde, aber es ist nach Mitternacht und wie ich es sehe, solltest du eher im Bett sein und ... schlafen“, antwortete ich und wurde wieder ernst.

    Tamina grinste verlegen, als sie erklärte: „Ich konnte nicht schlafen. Und danke, ich weiß, wie spät es ist. Ich dachte nur, dass wir zusammen ein wenig Magie üben könnten, wenn du magst. Es ist schon eine Weile her, seit wir das letzte Mal gemacht haben, und ich könnte etwas Training vertragen, besonders nach ...“ Ihre Stimme verlor sich.

    Ich seufzte. „Du meinst unsere letzte Mission?  Als ich in den Bann dieser weißen Frau geraten bin?" 

    Tamina nickte.

    „Nun, das klingt plausibel. Okay, von mir aus.“  Ich blieb stehen und dachte nach. Ich hatte diese Trainingseinheit nicht geplant, also was könnten wir tun? Und wohin könnten wir gehen? Das Bild der dunklen Straße erschien wieder vor meinem inneren Auge, die Erinnerung an die Aufregung und die faszinierenden Bilder, die sie erschaffen hatte.  Aber ein kurzer Blick auf meinen jungen Begleiter ließ mich die Sache noch einmal überdenken. Es war viel zu regnerisch gewesen, und ich wollte nicht, dass Tamina sich erkältet. Dann kam mir ein Gedanke. Ich nahm Taminas Hand und wir translokalisierten uns.

    Nun tauchten wir wieder am Meer auf. Ich konnte die Wellen sanft an die Küste rauschen hören – nach dem starken Regen, den ich erlebt hatte, klang das fast sanft. Wir gingen ein paar Schritte, so dass wir in der Nähe der Wasserkante standen.  Dann setzte ich mich auf den trockenen Sand und Tamina setzte sich neben mich. Einen Moment lang blickten wir beide auf das Meer. In der Ferne konnte man für den Bruchteil einer Sekunde einen winzigen Lichtpunkt aufleuchten sehen.  Dann wurde alles wieder dunkel. Etwa fünfzehn Sekunden später wiederholte sich der Vorgang. Es war der Leuchtturm der Nachbarinsel und derzeit war er unsere einzige Erinnerung daran, dass wir nicht allein auf dieser Welt waren. Der Mond über uns leuchtete hell und da der Himmel hier fast wolkenlos war, konnte man deutlich sehen, dass es sich um einen abnehmenden Mond handelte. Zum Glück. So schnell brauchte ich keinen Vollmond wieder.

    Tamina sah sich um, bevor sie mir in die Augen sah.  „Was jetzt?“, fragte sie. 

    „Warte kurz.“ Sei es wegen der Dunkelheit, die sich wie eine dicke Decke um uns gelegt hatte, oder wegen der Ruhe dieses Augenblickes, aber jetzt flüsterten wir beide unbeabsichtigt. „Kannst du es spüren?“, fügte ich nach einem Moment hinzu.

    Mein junge Begleiterin blickte sich um. Ihre Stirn legte sich in Falten. „Was soll ich spüren?“, flüsterte sie schließlich zurück.

    Ich lächelte. „Alles.“ Als Tamina mich immer noch verwirrt ansah, fuhr ich fort. „Vielleicht hilft es dir, die Augen zu schließen. Konzentriere dich auf deine Umgebung. Was kannst du hören? Was kannst du fühlen?“ Um meine Worte zu verdeutlichen, hob ich eine Handvoll Sand auf und ließ ihn durch meine Finger rieseln.

    Tamina schloss die Augen und konzentrierte sich.  Ich konnte quasi zusehen, wie sie ihren Kiefer zusammenpresste.

    „Entspann dich“, flüsterte ich.

    Tamina öffnete die Augen und seufzte schwer. „Aber ich fühle es nicht.“ 

    Ich versuchte, ein kleines Lächeln zurückzuhalten. „Du bist zu ungeduldig. Mach ganz in Ruhe und versuch es noch einmal. Lass deine Gedanken fließen. Nimm dir Zeit.“

    Nach einem Moment fügte sie langsam hinzu: „Warum machen wir das eigentlich?“

    Ich schaute mich einen Moment lang um und suchte nach Worten. Dann lächelte ich sie zärtlich an und erklärte: „Bei Magie geht es nicht nur darum, ein paar dubiose Worte zu sprechen oder zu versuchen, die Welt mit dem Wisch deines Zauberstabs zu verändern. Um Magie auszuführen, musst du die Magie zunächst spüren. Die Möglichkeit des Unbekannten. Magie geschieht jenseits dessen, was ein normales Auge sehen kann. Aber sie ist hier. Um uns herum. Überall. Und man kann sie spüren. Von der kleinsten Ameise auf dem Boden, die Zweige trägt, bis hin zur Eule, die hoch oben am Himmel gleitet. Bei Magie selbst geht es nicht nur ums Senden, sondern auch – oder noch mehr – ums Empfangen, darum, zuzuhören.  Deinen Geist und deinen Körper dafür zu öffnen, ist genauso wichtig, wie den genauen Wortlaut einer Zauberformel zu lernen.“

    Tamina nickte langsam. Entschlossen nahm sie nun meine Hand, setzte sich aufrecht hin und schloss die Augen. Sie atmete tief durch. Alles um uns herum wurde still. Es war, als würde auch die Welt für einen Moment den Atem anhalten. Dann atmete sie aus und der Moment zerbrach. Ich beobachtete sie noch eine Sekunde, bevor auch ich meine Augen schloss. Langsam ließ ich los, bis ich die sichtbare Welt um uns herum nicht mehr wahrnahm.  Stattdessen kamen neue Eindrücke. Es war wie ein Kribbeln, das durch meine Adern zu prickeln begann. Ich öffnete die Augen wieder. Ich bemerkte, dass auch Tamina die Augen wieder geöffnet hatte. Einen Moment lang sahen wir uns an. Dann schauten wir uns um. Anscheinend war es um uns herum neblig geworden. 

    „Was zur ...“, setzt Tamina an, verstummte dann aber wieder.  In diesem Moment sah ich es auch. 

     Das Licht des Leuchtturms der Nachbarinsel erhellte kurz die Silhouette zweier Schemen, die viele Kilometer entfernt am Meer saßen, genau wie wir dasaßen, und in die Nacht blickten, genau wie wir. Plötzlich schauten sie in unsere Richtung.  Zwei Paar rubinrote Augen starrten uns an. Zur gleichen Zeit begann ein seltsames, strahlend blaues Leuchten diese beiden Schemen zu umgeben.  Von oben näherte sich ein fliegendes Schiff, das ganz aus Wolken zu bestehen schien. Das letzte Bild, bevor der Lichtblitz verblasste, war eine Silhouette von zwei Schemen, viele Kilometer entfernt, die langsam aufstanden, das Schiff bestiegen und auf magische Weise verschwanden.

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