von Arwan
Es war Nacht. Ich stand draußen in der Kälte und wartete darauf, dass Tamina sich aus dem Haus heraus zu mir schlich. Ich sah mich um in dem Versuch, meinen Blick auf die lautlos um mich herumtanzenden Schatten zu fokussieren. Der Wind fuhr sanft durch die wenigen noch an den Bäumen verbliebenen Blätter und ließ sie leise rascheln. Fast wirkte es so, als ob die Welt um mich herum frieren würde. Abgesehen von der Kälte hätte es dennoch eine schöne Nacht sein können. Die Sterne hoch über mir funkelten hell und hier unten auf der Erde schaffte es die Halloween-Dekoration beinahe, noch ein bisschen heller zu funkeln. Hätte. Wie eben angedeutet, war es der 31. Oktober. Halloween. Eine Nacht, die niemals ruhig und friedlich würde sein können, egal wie wundervoll sie auf den ersten Blick auch wirkte.
Während ich auf Tamina wartete, entfaltete ich erneut den kleinen Zettel, den wir vor ein paar Tagen vom Hauptquartier erhalten hatten und laut dem wir heute auf eine spezielle Mission mussten – eine Halloween-Mission sozusagen. Doch leider hatten wir wie so oft nicht die geringste Ahnung, wo uns unsere Mission eigentlich hinführen würde.
„Hey. Bist du bereit?“, erklang plötzlich hinter mir eine vertraute Stimme. Ich drehte mich und sah zu, wie Tamina langsam auf mich zukam. Sie trug eine dicke Jacke und blickte mich nervös an.
„Nein, nicht wirklich“, gab ich mit einem letzten Seufzen zurück und steckte den Zettel weg. „Du?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich finde es ehrlich gesagt gruselig“, gab sie dann zu. „Hast du eigentlich irgendwas erfahren, wo unsere Mission stattfindet?“
Ich wollte gerade verneinen, als mich auf einen Schlag ein seltsames Gefühl durchfuhr. Bei Taminas letzten Worten hatte ich aufmunternd ihre Hand genommen, doch auf einmal begann mein ganzer Arm, seltsam zu prickeln. In der Ferne hörte ich ganz leise die ersten Glockenschläge, die ankündigten, dass bald Mitternacht sein würde. Und plötzlich verschwamm die Welt um mich herum. Ich hatte keine Ahnung, wo genau wir hinreisten, aber es war weit weg. Sehr weit weg.
Als ich wieder klar sehen konnte, befand ich mich in einer mir unbekannten Landschaft. Ich schien auf einem Feld zu stehen, in der Ferne konnte ich eine Hügelkette erahnen. Doch alles wirkte irgendwie seltsam. Die Gräser, die mir fast bis auf Kniehöhe reichten, waren merkwürdig unbewegt. Auch die Luft schien stillzustehen. Fast so, als sei ich in ein Stillleben gestolpert. Kein Lüftchen regte sich. Alles wirkte so ... tot. Wo war ich hier? Ich konnte noch nicht einmal richtig identifizieren, ob es Tag war oder Nacht. Es herrschte ein eigenartiges Dämmerlicht, es war weder richtig hell noch dunkel. Dieses diffuse Licht ließ alles um mich herum grau erscheinen. Ich hatte zuerst gedacht, das würde an der abrupten Ankunft hier liegen, doch je länger ich mich umblickte, desto mehr verstärkte sich der Eindruck.
Mein nächster Gedanke galt Tamina. Sie war doch mit mir hierhergekommen – wo war sie nur? Meine Hand, mit der ich sie eben noch festgehalten hatte, war leer. Schnell drehte ich mich um die eigene Achse, konnte sie jedoch nicht entdecken. „Tamina?“, rief ich und erschrak, weil ich meine Stimme nur wie durch Watte wahrnahm. „Tamina, wo bist du?“
Keine Antwort. So langsam wurde ich richtig unruhig und überlegte schon, einfach in irgendeine Richtung loszulaufen, als ich hinter mir ein leises Stöhnen vernahm. Dort, bei einem Felsen, den ich zuvor noch gar nicht bemerkt hatte, regte sich etwas! Vorsichtig lief ich darauf zu. Das seltsame Geräusch wurde lauter und mir stellten sich die Nackenhaare auf. Dieses Geräusch klang so ... animalisch. So wenig menschlich. Als ich um den Felsen herumspähen konnte, zuckte ich zusammen und blieb abrupt stehen. Dann wurde ich mir der Szenerie vor mir vollends Gewahr und lief erneut los. Im Gras neben dem Felsen lag Tamina, offenbar halb benommen.
Schließlich war ich bei ihr und berührte sie sanft an der Schulter. „Tamina?“, flüsterte ich. „Tamina, was hast du? Kannst du mich hören?“
Sie stöhnte noch einmal, doch ihre Augen waren weiterhin fest geschlossen. Ich schüttelte sie sanft und sie zuckte zusammen. Ein Schauer überlief sie – fast so, als ob ihr kalt sei. Nach einem weiteren Moment öffnete sie die Augen und blickte mich an.
Es mochte an diesen diffusen Lichtverhältnissen liegen, doch als ich in ihre Augen sah, zuckte auch ich unwillkürlich zurück, denn ihre Augen waren nicht mehr das warme, freundliche Braun, das ich kannte; nein, sie waren dunkel, fast schwarz, und sie waren kalt. Eiskalt.
„Sag doch bitte was, Tamina, rede mit mir“, forderte ich sie nun beinahe verzweifelt auf. „Kann ich dir irgendwie helfen?“
Mit einem Ruck setzte meine kleine Teampartnerin sich auf, sodass ich im wahrsten Sinne des Wortes zurückfuhr und unsanft neben ihr im Dreck landete. Sie starrte mich an und ihr Gesicht verzog sich zu einem spöttischen Grinsen. „Was soll denn sein?“, fragte sie und ihre Stimme jagte mir einen Schauer über den Rücken. „Und wieso sollst du mir denn bitte helfen?“ Sie lachte bitter. Dabei fiel ihr eine lange Strähne ins Gesicht. Ohne den Blick von mir zu lassen, griff Tamina an meinen Gürtel und zog eines meiner beiden Messer – wann bitte hatten wir uns in unsere Missionsform verwandelt? – hervor. Ich erstarrte vor Schreck, als sie sich damit ihrem Gesicht näherte. Sie lächelte noch einmal kalt, bevor sie die Strähne ohne mit der Wimper zu zucken absäbelte. Ich fuhr zurück. Alles in mir gefror zu Eis, während ich beobachtete, wie die Haarsträhne langsam zu Boden segelte. Was zur Hölle war hier los?
„Tamina, geht’s dir nicht gut? Bist du vielleicht auf den Kopf gefallen?“, startete ich einen neuen Versuch, doch Tamina lachte nur kalt.
„Oh glaub mir, mir ging es noch nie besser!“ Sie erhob sich und auch ich sah zu, dass ich wieder auf die Beine kam. Irgendetwas war mir an dieser Situation ganz und gar nicht geheuer. Und ich wusste noch nicht einmal, wo wir hier eigentlich waren. Doch solange Tamina sich so merkwürdig verhielt, hatte ich offen gestanden auch nicht den Nerv, mich hier weiter umzusehen.
„Endlich sehe ich die Dinge klar“, erklang nun wieder die Stimme meiner Partnerin, doch auch sie hörte sie seltsam verzerrt an, so, als befänden wir uns unter Wasser. „Das kleine Dummchen hat endlich die Augen aufgemacht“, fügte sie giftig hinzu. „Die kleine, dumme Tamina, die nicht merkt, wenn man hinter ihrem Rücken über sie lästert, die allen immer alles verzeiht, die sich nie wehrt und die ja ach so hilfsbedürftig ist. Gib doch zu, dass du mich auch so siehst. So, wie alle anderen. Klein. Dumm. Wertlos.“ Ein gehässiges Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus, während ich sie nur sprachlos anstarren konnte.
„Aber“, fuhr Tamina fort und mein Entsetzen wuchs mit jedem ihrer folgenden Worte, „das ist jetzt vorbei. Die kleine dumme Tamina ist tot.“
Nun brach sich auch meine Wut Bahn und ich schoss zurück: „Was zum Teufel redest du da? Das stimmt doch gar nicht! Und das weißt du auch!“ Doch meine Worte schienen überhaupt nicht bis zu ihr durchzudringen. Es wäre wahrscheinlich effektiver gewesen, hätte ich stattdessen eine Wand angebrüllt. Ich versuchte, langsam einige Schritte auf sie zuzugehen, denn es war mir nur zu deutlich bewusst, dass sie noch immer einen meiner Dolche in der Hand hielt.
Tamina schien meine Absicht zu durchschauen, denn sie hob beide Hände und fuhr mich an: „Bleib weg! Ich brauche nichts und niemanden! Ihr braucht mich nicht in eurem Leben, also brauche ich euch ab sofort auch nicht mehr! Ihr alle könnt mir sowas von gestohlen bleiben.“
Ihre letzten Worte trafen mich schwer. Wir waren doch ein Team! Ich hatte keinen blassen Schimmer, was meine Partnerin so erzürnt hatte. Ob sie von einem Untoten besessen worden war, bevor ich sie gefunden hatte? Während Tamina sprach, hatte ich außerdem das Gefühl, als ob sich der Himmel um uns herum rapide verdunkelte, so, als ob sie mit ihrer Wut einen gewaltigen Sturm heraufbeschwören würde.
Während ich verzweifelt überlegte, machte Tamina sich mit meinem Dolch erneut an ihren Haaren zu schaffen und begann, weitere Strähnen daraus herauszusäbeln. In diesem Moment riss mir der Geduldsfaden – ich überbrückte die letzten paar Schritte zwischen uns und versuchte, ihr den Dolch aus der Hand zu nehmen. Doch als hätte eine unbekannte Macht von ihr Besitz ergriffen, drehte sie ihre Hand blitzartig nach oben, sodass die spitze Seite des Dolches plötzlich tief und schmerzhaft in meinen Unterarm schnitt. Ich war so schockiert, dass ich zwei Schritte zurücktaumelte. Meine Gedanken rasten. Hatte Tamina das gerade wirklich getan?
Unwillkürlich blickte ich erneut kurz hinauf in den Himmel – dieser war nun von pechschwarzen, turmhohen Gewitterwolken bedeckt und in der Ferne sah ich die ersten Blitze zucken. Dennoch war es gespenstisch still. Es wehte kein Wind und ich konnte gar nicht recht begreifen, wo die Gewitterfront auf einmal hergekommen war. Mit einem Schlag war auch meine Wut verpufft. Ein anderes Gefühl breitete sich in mir aus – ich hatte es so lange nicht mehr gefühlt, dass ich einen Moment brauchte, bis ich begriff. Es war Angst. Sie drang aus ihrem tief verborgenen Versteck, in dem sie so lange geschlummert hatte, nach oben und füllte meinen ganzen Körper aus. Meine Atmung beschleunigte sich, und wenn ich noch einen Herzschlag gehabt hätte, wäre es diesem wohl ähnlich ergangen.
Aber noch viel wichtiger war Tamina. Ich musste irgendwie herausfinden, was in meine Teampartnerin gefahren war, die erneut wie besessen an ihren Haaren herumschnippelte. Ich wandte mich ihr zu und wollte irgendwie beruhigend auf sie einreden, auch wenn ich keine Ahnung hatte, wie, als sie urplötzlich jaulte. Laut und verzweifelt. So, als habe man sie geschlagen. Dann noch einmal. Wieder so, als ob sie Schmerzen hätte. Da sie sich bei ihrer absurden Haarscher-Aktion halb von mir abgewandt hatte, konnte ich nur ihr Profil sehen, und ich bemerkte, dass sie plötzlich manisch die Lippen bewegte, so als ob sie leise vor sich hinbrabbeln würde. Trotz der absoluten Stille um uns herum war es schwer, ihre Worte zu verstehen. Einige Fetzen meinte ich dennoch zu verstehen: „Nicht ... Angst ... Warum tut ihr das? Was hab ... getan?“ Mit einem Ruck ließ Tamina von ihren Haaren ab und setzte sich in Bewegung, nur um immer wieder im Kreis zu laufen. Sie schien mich in diesem Moment gar nicht mehr wahrzunehmen.
Erst mit einiger Verspätung wurde ich mir des seltsamen Gefühls an meinem Unterarm gewahr – die Haut um die Schnittwunde herum fühlte sich irgendwie feucht an, so als ob ich meinen Arm unter fließendes Wasser gehalten hätte. Ich blickte abwärts und sah, wie mir ein dünner Strom einer dunklen – in diesem diffusen Licht beinahe schwarzen – Flüssigkeit aus der Wunde lief. Mein Gehirn brauchte einige Millisekunden, bis ich verstand, dass ich blutete. Wie war das möglich? Ich war ein Vandraren! Ich war unverwundbar! Und doch hatte Tamina mich gerade geschnitten, als sei ich ... keine Ahnung. Meine Gedanken überschlugen sich, während ich weiterhin dem Fluss zusah, der zwar dünn, aber beängstigend konstant aus meinem Arm entwich.
„Tamina?“, fragte ich mit schwacher Stimme, während ein weiterer Adrenalinschub durch mich hindurchrauschte.
Mit einem Ruck blieb meine Teampartnerin stehen und drehte sich wieder gänzlich zu mir um. Sie musterte mich mit eiseskalten Augen. Wer zum Teufel war diese Fremde da vor mir und was hatte sie mit meiner Tamina gemacht?
Meine Teampartnerin trat nun langsam auf mich zu und meine Angst verwandelte sich in echte Panik, als ich sah, wie sie erneut den Dolch in meine Richtung erhob. Sie würde doch nicht wirklich ... Vor Angst wie gelähmt musste ich mitansehen, wie Tamina auf mich zielte. Im letzten Moment erwachten dann wohl auch in mir irgendwelche Überlebensinstinkte und ohne groß darüber nachzudenken, zog ich meinen Zauberstab und verwandelte ihn in mein Schwert. Ich wollte Tamina nicht schaden, aber ich musste ihren Stoß abblocken!
Ich hatte es gerade so geschafft, ihren Angriff zu parieren, als sie auch schon zur Seite tänzelte und erneut auf mich losging. Passend zu ihrem Angriff ging auch um uns herum in den Wolken ein Inferno los. Blitze zuckten und tauchten die Welt für Sekundenbruchteile in gleißendes Licht, bevor sie wieder in der Dunkelheit versanken. Die extreme Helligkeit der Blitze ließ die Dunkelheit danach umso bedrohlicher wirken, und selbst ich hatte Mühe, mich zu orientieren. Aber das wohl Beängstigendste war die absolute Stille, mit der diese Naturgewalt um uns herumjagte. Kein einziger Laut war zu hören und hätte man die Augen geschlossen, hätte man meinen können, es sei gar nichts passiert.
Wieder prallten unsere Waffen aufeinander und wieder entging ich einem Treffer nur um Haaresbreite. Ich holte tief Luft und hechtete zur Seite. Seit wann fühlte ich mich so eigenartig erschöpft? Lag es an der Wunde, aus der ich noch immer blutete? So verletzlich hatte ich mich nicht mehr gefühlt, seit ... Ich wusste es nicht. Und mir blieb auch keine Zeit, lange darüber nachzugrübeln, denn Tamina holte erneut aus. Sie hieb nun wie eine Besessene auf mich ein und ich fühlte meine Kraft immer weiter schwinden. Verzweifelt suchte ich nach einem Ausweg, aber mir fiel einfach keiner ein.
Ein anderes Gefühl breitete sich in mir aus. Hoffnungslosigkeit. So verzagt hatte ich mich in meinem ganzen Leben als Vandraren noch nicht gefühlt und mein Kopf begann, mir verräterische Fragen ins Ohr zu flüstern: Warum kämpfst du eigentlich noch? Wo ist da der Sinn? Wozu dieser ewige Kampf, diese ewige, verzweifelte Suche nach ... was eigentlich? Wofür das Ganze? Wofür existierst du?
Diese Gedanken brachten mich noch mehr aus dem Konzept und da passierte es – eines meiner Ausweichmanöver ging daneben und ich stolperte. Ich sah wie in Zeitlupe, wie das kniehohe Gras an mir vorbei in die Höhe zu wachsen schien – bis mein Körper schließlich auf dem Boden aufkam. Ich lag nun halb auf dem Rücken da und konnte nur noch zusehen, wie Taminas Dolch – mein Dolch – auf mich zusegelte. Ein allerletztes Mal. Mach, dass es aufhört, dachte ich nur noch und schloss die Augen.
Ein lauter Knall ertönte. Es war das erste richtige Geräusch seit unserer Ankunft und das schockierte mich mehr als alles bisher Geschehene. Ich verharrte dennoch unbewegt in meiner Haltung, immer noch auf das Ende wartend.
„Sie ist schon merkwürdig, diese Anderswelt“, vernahm ich auf einmal eine mir unbekannte Stimme und zuckte zusammen. Schließlich zwang ich mich, die Augen wieder zu öffnen und mich umzublicken.
Ein Mann, der mir vage bekannt vorkam, trat auf mich zu. Als er nur noch wenige Schritte von mir entfernt war, blieb er schließlich stehen. Ich brauchte einen Moment, doch dann rappelte ich mich langsam auf. Dabei bemerkte ich, dass Tamina auf einmal ein ganzes Stück entfernt von mir stand. Wie mitten in der Bewegung erstarrt stand sie da und sah ausdruckslos in die Ferne. Die Hand, mit der sie den Dolch hielt, war nach wie vor zum Angriff erhoben.
„Was hast du mit ihr gemacht?“, fuhr ich den Fremden an, der inzwischen die letzten Schritte zwischen uns überbrückt hatte und nun vor mir stand. Ich war mir so sicher, den Mann zu kennen, doch ich konnte Gesicht und Stimme nicht zuordnen.
„Ich? Gar nichts. Zumindest nicht mir ihr im Speziellen. Ich habe für alle außer uns die Zeit angehalten, damit wir beide uns in Ruhe unterhalten können, Arwan Llewellyn. Ich habe einige Informationen für dich, die dich brennend interessieren dürften.“
„Woher kennst du meinen Namen? Wer bist du?“, gab ich in dem verzweifelten Bestreben zurück, aus dieser absurden Situation schlau zu werden. Je mehr ich mich auf den Mann vor mir zu fokussieren versuchte, desto mehr schien seine Gestalt zu verschwimmen. Blickte ich hingegen an ihm vorbei, materialisierte sich seine Gestalt wieder.
„Also ich muss schon sagen, ich bin enttäuscht. Dabei sind wir uns doch vor Kurzem erst begegnet. Und immerhin habe ich deinen Zauberstab hergestellt. Und ihren.“ Bei diesen letzten Worten hatte er in Richtung meiner Teampartnerin genickt.
Unwillkürlich musste ich seinem Blick gefolgt sein, denn als ich nun wieder zurück zu dem Fremden vor mir sah, verschwamm seine Gestalt plötzlich nicht mehr. „Merlin?“, fragte ich mit schwacher Stimme. „Ich hätte Euch niemals erkannt. Eure Stimme ... sie klingt so ... anders.“ Wo war das übliche nervtötende Gefiepse, wo waren die Kommentare über Yoga-Kurse?
„Merlin, Sohn von Merlin, wenn ich bitten darf“, erwiderte mein Gegenüber pikiert, „und wie ich bereits sagte, hier in der Anderswelt sind viele Dinge nicht so, wie sie auf den ersten Blick scheinen.“
Ich brauchte einen Augenblick, um zu verstehen. „Die Anderswelt? Meint Ihr so, wie in manchen Sagen?“
„Ja und nein“, erwiderte Merlin, Sohn von Merlin sanft, da er meine Verwirrung wohl nur zu deutlich spürte. „Die Welten in den Sagen kommen diesem Ort schon ein bisschen nahe, aber doch werden sie ihn nie vollends erfassen können. Jeder nimmt diese andere Welt ein wenig verschieden wahr, und jeder reagiert anders auf sie. Schau mich an. Aus dem verhutzelten, alten Zauberer, den alle gern ein wenig belächeln, wird auf einmal eine offenkundig mächtige und furchtgebietende Person.“
„Ihr habt die Zeit angehalten“, stotterte ich und blickte sicherheitshalber noch einmal zu Tamina, die sich nach wie vor nicht von der Stelle gerührt hatte.
„Nur eines meiner kleineren Kunststücke“, gab Merlin, Sohn von Merlin zurück. „Denk daran, wenn wir uns das nächste Mal sehen, Arwan Llewellyn: Niemand überlebt so lange, indem er den lieben langen Tag etwas von Garantieansprüchen auf Zauberstäbe faselt. Die Dinge sind selten, wie sie scheinen. Was mich zu dem Grund bringt, warum ich hier bin. Und warum du hier bist. Heute ist Halloween, oder wie neuzeitliche Menschen das auch immer nennen mögen. Aber was noch viel wichtiger ist: Heute verschwimmen die Grenzen zwischen den Welten. Heute machen wir alle Grenzerfahrungen, wenn du so willst, mehr als an sonst jedem Tag in unser aller Leben. Manche bewusster, andere weniger bewusst. Und sieh nur, was die Anderswelt uns bringt – ich bin plötzlich wieder der hoheitsgebietende Zauberer, der ich einst war, und du, der unverwundbare Vandraren ...“
„Ich bin verwundbar“, flüsterte ich kaum hörbar. Nach einem kurzen Moment der Stille gab ich schließlich deutlich leiser zu: „Und ich habe Angst. Ich fühle mich so ... hoffnungslos.“ Dann holte ich tief Luft. „Tamina hat mich mit meinem eigenen Dolch geschnitten. Wieso hat sie das getan?“ Ich schenkte der mittlerweile rapide größer werdenden Pfütze auf dem trockenen Boden vor mir kaum Beachtung, während ich verzweifelt auf meine kleine Teampartnerin schaute. „Was ist mit ihr? Ist sie von einem Untoten besessen worden?“
„Ja und nein“, erwiderte Merlin, Sohn von Merlin, erneut mit sanfter Stimme. „Sie ist besessen, aber nicht von irgendeinem Untoten. Schau genauer hin. Hast du gehört, was sie gesagt hat?“
Ich seufzte. „Sie hat mir vorgeworfen, ich würde sie nicht ernst nehmen. Dass niemand sie ernst nehmen würde. Weil sie so ein liebes Mädchen ist und ... sie hat sich selbst als schwach bezeichnet. Aber das stimmt doch gar nicht! Wie kann ich ihr denn helfen?“
Merlin sah mir fest in die Augen. „Du kannst ihr nicht helfen. Wie ich bereits sagte, sind es keine fremden Untoten, die sie quälen. Es sich ihre eigenen Dämonen. Offenbar macht sich unsere Tamina hier im Verborgenen sehr viele Gedanken darüber, dass sie nicht selbstbewusst genug auftritt, oder dass sie sich von anderen zu viel gefallen lässt. Vielleicht hat sie auch einige Situationen erlebt, nach denen sie sich sehr schlecht gefühlt hat und die sie unbewusst quälen. Aber du kannst ihr nicht helfen. Sie muss selbst lernen, mit ihren Schwächen umzugehen.“
„Sie hat mir früher immer wieder gesagt, dass sie sich nicht selbstbewusst genug fühlt“, gestand ich nun schuldbewusst ein. „Ich hätte ...“ Bei genauerer Betrachtung hatte ich keine Ahnung, was ich hätte. „Aber ich kann doch nicht einfach daneben stehen und zuschauen, wie sie vor meinen Augen eingeht!“, wandte ich daher verzweifelt ein.
„Falls ihr das hier überlebt, sei einfach für sie da“, fuhr Merlin nun fort. „Eine solch entzaubernde Erfahrung kann sehr schmerzhaft sein, aber so gut wie jeder macht sie früher oder später durch. Dazu kommt noch, dass Tamina im Moment gefangen ist zwischen zwei Welten. Ihrem regulären Alltag und ihrem Leben als Geisterkriegerin. Wie eine Münze, die sich um die eigene Achse dreht. Aber eines Tages – und niemand weiß, wie fern dieser Tag noch ist – wird sie sich entscheiden müssen. Wie die Münze, die irgendwann zu der einen oder anderen Seite kippen muss. Und wenn es soweit ist ... Zeig ihr, dass du hinter ihr stehst und vor allem: Halt sie von dummen Ideen ab. Wir wollen nicht, dass sie sich in diesem fragilen Zustand etwas antut. Und schick sie zum Friseur. Keine Ahnung, was sie sich bei ihren Haaren gedacht hat.“
Ich konnte ein kurzes, sarkastisches Lachen nicht unterdrücken, bevor mich gleich darauf wieder der Mut verließ und meine Angst vollends zurückkehrte. „Ich? Wie soll ich denn für sie da sein? Ist Euch vielleicht aufgefallen, dass ich gerade irgendwie eigene Probleme habe?“ Nun brach echte Panik bei mir durch und ich schrie beinahe: „Warum das alles? Seht mich doch an, Merlin, ich bin ein Wrack! Wie soll ich denn bitte irgendwem helfen?“
Merlin verdrehte die Augen. Er setzte an zu erwidern: „Du musst ...“
Ich schnitt ihm das Wort ab. Auf einen Schlag wurde meine Angst du ein anderes Gefühl ersetzt. Wut. Wut war eindeutig besser. „Wenn Ihr mir jetzt irgendeinen Motivations-Scheiß vorsetzen wollt, von wegen, ich müsse aufstehen und kämpfen, dann könnt Ihr das gleich steckenlassen! Ich stehe jeden Tag auf! Ich kämpfe jeden Tag! Aber jetzt frage ich mich: Wofür das alles? Wisst Ihr was, Merlin, ich habe keine Lust mehr zu kämpfen! Ich will nicht mehr! Ich will nur einmal meinen Frieden haben, ohne all das hier, ohne diese ständige Gefahr, ohne die ganzen Missionen, ohne alles! Ich will einfach nur sein! Und im Moment will ich ehrlich gesagt nicht mal das!“
Nach meinem Ausbruch schien Merlin, Sohn des gottverdammten Merlin, kurz zu seufzen. Dann hatte er tatsächlich die Stirn mich anzugrinsen, als sei ich nur ein kleiner, dummer Junge. „Keine Sorge“, erwiderte er, „das werde ich bestimmt nicht tun. Weißt du auch, warum? Weil es mich eigentlich nicht interessiert. Und wenn du das Gefühl hast, keinen Sinn im Leben zu haben, dann such dir halt einen. Pflanz‘ Blumen. Oder beobachte meinetwegen Vögel. Von mir aus kannst du auch die Fenster an irgendwelchen Hochhäusern zählen.“
Machte der Typ sich etwa lustig über mich? Der wollte mich doch vergackeiern, oder?
„Nur ein bisschen“, schmunzelte Merlin, Sohn von Merlin und mit Entsetzen ging mir auf, dass er offenkundig meine Gedanken hören konnte, während ich zum ersten Mal voll realisierte, dass ich von seinen keine Ahnung hatte.
Merlin fuhr nun fort: „Ich kann und werde und will dir nicht vorschreiben, was du jetzt mit deinem Leben machen sollst. Das kannst nur du selbst. Aber ich kann dir ja mal einen kleinen Denkanstoß geben. Denk an dein Leben. Denk an deine Vergangenheit. Denk an das, was du getan hast – das Gute, wie das Schlechte. Denk vor allem an das Gute, wir wissen ja, dass unser Gehirn sich eh lieber auf das Schlechte fokussiert. Und jetzt denk an deine Gegenwart. Denk an die Menschen in deinem Leben. An jeden einzelnen. Sind sie dir wichtig? Und wenn es nur einen einzigen Menschen gibt, bei dem du diese Frage mit ja beantworten kannst, dann rate ich dir um Himmels Willen: Kämpf. Egal, wie lange es dauert und egal, wie schwer es wird, kämpf. Sei für die Menschen da, die dir wichtig sind und sie werden umgekehrt auch für dich da sein. Wenn du sie lässt.“
Merlin, Sohn von Merlin, pausierte einen Moment, während die widersprüchlichsten Emotionen durch mich hindurchrasten. Ein Teil von mir wollte ihn immer noch anschreien, ein anderer wollte am liebsten schreiend wegrennen und wieder ein anderer wollte sich in Embryonalstellung auf den Boden werfen und einfach die Augen zumachen. Also blieb ich stehen, wo ich war. Dann holte ich tief Luft und fragte Merlin – in Erinnerung an dessen letzten Kommentar, bevor ich so ausgerastet war: „Ihr sagtet etwas von einer entzaubernden Erfahrung, die Tamina gerade durchmacht? Und einer Entscheidung?“ Dann traf mich ein weiterer Gedanke: „Und Ihr sagtet, falls wir das hier überleben ... Wie meint Ihr das?“
Merlin hüstelte und erwiderte schließlich: „Tamina lernt gerade nicht mehr und nicht weniger, als dass jeder von uns, selbst die sanftmütigsten und ruhigsten, eine dunkle Seite in sich tragen. Die nach mehr Beachtung schreit. Die danach schreit, sich zu wehren, wenn einem etwas nicht passt oder wenn man sich ungerecht behandelt fühlt. Und das ist auch vollkommen in Ordnung so. Ich fürchte jedoch, deine junge Freundin hat all diese negativen Emotionen viel zu lange unterdrückt. Warum, kann nur sie selbst dir sagen. Aber das wiederum hat ihr eigenes inneres Gleichgewicht durcheinandergebracht. Der Effekt wird durch die Anderswelt hier höchstwahrscheinlich noch um ein Vielfaches verstärkt. Dazu kommt noch, dass Tamina quasi zwei Leben gleichzeitig lebt. In beiden sieht sie sich unterschiedlichen Erwartungen ausgesetzt. Sie wird das nicht mehr ewig durchhalten. Irgendwann muss sie sich für eines entscheiden. Und du, Arwan Llewellyn, hast einen weit größeren Einfluss auf diese Entscheidung, als du jetzt vielleicht denkst. Deine einzige Chance ist es, an dieser Wand aus Wut und Verzweiflung, die sich da aufgestaut haben muss, vorbei zu ihr durchzudringen. Und – und das bringt mich zu deiner nächsten Frage – am besten, bevor du verblutet bist.“
Bei diesen Worten nickte er leicht zu meinem Arm und erst jetzt realisierte ich, wie viel Blut ich bereits verloren haben musste. Wo kam das nur her? Ich spürte, wie mir langsam schwummrig wurde.
„Ich muss dich nun wieder verlassen, doch ich wünsche dir und deiner Teampartnerin alles erdenklich Gute. Ich hoffe wirklich, dass wir uns in ein anderen Welt wiedersehen.“
„Merlin“, rief ich, „wartet doch!“ Doch meine Hand, mit der ich nach ihm greifen wollte, fuhr nur durch einen gespenstisch kalten Nebel, und seine Gestalt verschwamm erneut in wabernden Fetzen. Ich hielt verdutzt inne. „Seid Ihr überhaupt wirklich hier?“, rutschte es mir heraus und Merlin kicherte leise.
„Wer weiß“, gab er zurück, „schließlich ist das hier eine der Anderswelten. Vielleicht war ich auch nur in deiner Vorstellung da.“ Und damit löste sich der nebulöse Schatten vor mir in Nichts auf.
Mit einem Schlag, so als hätte man eine Seifenblase zerstochen, nahm ich auch meine Umgebung wieder etwas deutlicher war. Mein erster Gedanke galt Tamina. Ich stolperte auf sie zu, doch mir war so schwindlig, dass ich nach wenigen Schritten in die Knie ging. Kein Wunder, um mich herum hatte sich auch mittlerweile ein veritabler See aus – ich konnte es kaum glauben – meinem eigenen Blut gebildet. Mir wurde auf einen Schlag entsetzlich kalt. Ich begann zu frieren und am ganzen Körper zu zittern. Dennoch versuchte ich, nun auf Knien, zu Tamina zu gelangen, wobei ich eine beachtliche Blutspur hinter mir herzog.
Dennoch nahm ich plötzlich auch etwas anderes wahr – so, als ob Merlins Zauber auch die absolute Stille um uns herum zerstört habe. Das Gewitter hatte anscheinend aufgehört, zumindest zuckten keine Blitze mehr und auch die Wolken sahen nicht mehr ganz so tiefschwarz aus. Doch dafür hörte ich stattdessen etwas; es klang wie eine leise, nicht definierbare Melodie, die langsam in der Ferne zu spielen begann. Aber dafür hatte ich jetzt keine Zeit.
„Tamina“, versuchte ich zu rufen, doch ich spürte selbst, wie schwach meine Stimme inzwischen war. Ich war nun fast bei meiner Teampartnerin angelangt, doch sie blickte immer noch geistesabwesend in eine andere Richtung. Ob sie mich überhaupt bemerkte? Trotz meines benebelten Zustandes vernahm ich fast zeitgleich, wie die Melodie lauter wurde, doch noch immer konnte ich sie nicht richtig zuordnen. Und dann ging der Gesang los. Geisterhafte Stimmen umtanzten mich und zogen mich in ihren Bann. Obwohl ich keines der Worte verstehen konnte, war es mir unmöglich, wegzuhören. Lauter und lauter schallte es um mich herum, bis ich mich auf nichts anderes mehr konzentrieren konnte. Dann, eine Silbe – LA?
Mit Mühe riss ich mich von dem Sirenengesang los und wandte mich wieder Tamina zu. Tamina, bitte, dachte ich verzweifelt.
Auf einmal fuhr sie herum und sah mich an. „Arwan“, schrie sie und ging vor mir in die Knie. Als ich in ihre schreckgeweiteten Augen sah, registrierte ich erleichtert, dass zumindest ein bisschen der mir bekannten Wärme darin zurückgekehrt war. Nun blickte sie auf die Blutspur hinter mir und schrie erneut auf. Schließlich folgte ihr Blick ihrem Arm und sie erkannte den Dolch, den sie noch immer in der Hand hielt und dessen Klinge offenkundig auch mit meinem Blut besudelt war. Sie schrie ein drittes Mal auf und warf die Waffe weit von sich. „Oh mein Gott Arwan, war ich das etwa? Das wollte ich nicht! Wie konnte das nur ...?“, stammelte sie hektisch durcheinander, doch ich unterbrach sie.
„Tamina“, flüsterte ich, weil mehr einfach nicht drin war, „wir müssen hier weg. Bitte.“ Die Melodie steigerte sich noch einmal auf Konzertlevel, ganz so, als ob sie uns bewusst stören wolle. Mittlerweile waren es einige wenige Wort, die ich hörte, und die sich in Dauerschleife zu wiederholen schienen.
„... LU --- IA --- ...“
Tamina zuckte zusammen. „Aber wie denn?“, rief sie dann panisch und ich sah, wie auch die Kälte wieder in ihre Augen kroch. Meine kleine Partnerin schien regelrecht einen Zweikampf mit sich selbst auszufechten. Noch immer lärmte der Gesang um uns herum.
„... IA --- ALLE --- LU ...“
Ich war nun wirklich mit meiner Kraft am Ende und so hauchte ich nur noch, während meine Sinne schwanden: „Tamina, bitte, Wut gut, aber bitte ... Lass los. Für jetzt ...“ Mir fielen die Augen zu und ich konnte sie nur mit Mühe erneut öffnen. Intuitiv wusste ich, das nächste Blinzeln würde mein Letztes sein.
Ein letzter, donnernder Paukenschlag drohte, mich komplett die Orientierung verlieren zu lassen.
Mit größter Kraftanstrengung sah ich meiner Teampartnerin in die Augen. Ich registrierte immer noch einen Hauch dieser seltsamen Kälte, aber ich registrierte auch Entschlossenheit. Für einen Moment strahlten ihre Augen wieder so, wie ich sie in Erinnerung hatte. Ich sah ihr tief in die Augen, weshalb ich wohl nur am Rande mitbekam, wie der Horizont plötzlich ein Eigenleben zu entwickeln schien und begann, sich aufzurollen wie ein alter Teppich. Vielleicht halluzinierte ich auch nur.
Auch die Musik schien sich ein letztes Mal aufzubäumen, so kam es mir jedenfalls vor. „... IA --- ALLE--- LU ... --- ALLE --- LU --- IA ... “
Mir fielen ein letztes Mal die Augen zu und die Finsternis verschluckte mich.
Es waren die Glockenschläge, die mich wieder weckten. Ganz in der Ferne und so leise, dass ich im ersten Moment glaubte, es sei nur Einbildung gewesen, hörte ich sie erklingen. Nach dem dritten begann ich richtig zuzuhören. Nach dem fünften begann ich zu glauben, dass sie tatsächlich da waren und ich sie mir nicht nur einbildete. Nach dem achten wurde ich mir meines eigenen Körpers und meiner Umwelt langsam wieder Gewahr. Nach dem zehnte spürte ich, wie mich jemand panisch an der Schulter rüttelte und meinen Namen schrie. Nach dem zwölften öffnete ich die Augen.
Offenbar lag ich in Taminas Garten, genau dort, wo wir uns befunden hatten, bevor die Mission uns weggebracht hatte. Ich blickte mich um, und sah Tamina über mir knien, mit Tränen in den Augen. „Oh Arwan, bitte bitte wach auf“, rief sie verzweifelt und schüttelte mich noch einmal.
„Ist ja gut, ich bin wach“, gab ich noch etwas benebelt zurück und setzte mich auf. Verunsichert registrierte ich, dass offenbar seit unserem Aufbruch keine Zeit vergangenen war, zumindest nach den gerade eben erst verklungenen Glockenschlägen zu urteilen. Das war merkwürdig, schließlich schien unser Aufenthalt in dieser Anderswelt ewig gedauert zu haben und ... Reflexartig blickte ich auf meinen Unterarm. Ich erblickte eine kleine weiße Narbe, doch die war augenscheinlich verheilt und sah überhaupt nicht frisch aus. Erleichtert erkannte ich, dass ich nicht mehr blutete.
„Wie geht’s dir?“, fragte ich daher an meine kleine Partnerin gewandt, die immer noch weinend neben mir saß.
„Oh Gott, ich hatte solche Angst um dich! Ich wollte dich doch nicht verletzen und ... ich weiß eigentlich gar nicht so genau, was da mit mir los war. Da war so viel Wut, so viel Verzweiflung in mir ... Es war entsetzlich.“
„Und das alles ist auch immer noch da“, entgegnete ich nun eingedenk Merlins Worten und setzte mich auf. Im nächsten Moment dachte ich an all die Emotionen, die ich erlebt hatte. Die Angst. Die Hoffnungslosigkeit. Das Gefühl, so unglaublich verwundbar zu sein. Mit einiger Mühe machte ich mich von diesen Gedanken frei. Dann erhob ich mich langsam und hielt ich Tamina meine Hand hin. „Komm mit“, sagte ich und sie blickte mich zögerlich an.
„Wohin denn?“, fragte sie schließlich, während sie nach meiner Hand griff, doch da hatte ich uns bereits weggezaubert.
Wir standen an einer Steilküste. Unter uns toste das Meer wütend vor sich hin, doch hier oben hörte man nicht mehr als ein leises Grummeln. Ich wandte mich zu Tamina um, die neben mir stand und fasziniert auf in die Dunkelheit vor uns blickte.
„Schrei“, sagte ich und sie zuckte zusammen. Dann drehte sie sich vollends zu mir um.
„Wie bitte?“, gab sie irritiert zurück.
„Du hast mich schon verstanden“, entgegnete ich und fügte sanfter hinzu: „Ich hatte ein sehr merkwürdiges Gespräch mit Merlin, Sohn von Merlin und er hat mir gesagt, dass wir nur vermeiden können, dass sowas nochmal passiert, wenn du ein gesünderes Verhältnis zu deinen eigenen negativen Emotionen, die dich heimsuchen, aufbaust. Das fängt damit an, dass du den Ballast loswirst, den du schon mit dir rumschleppst. Also nochmal: Schrei!“
Tamina sah mich immer noch verunsichert an. „Wie denn? Ich kann doch nicht mitten in der Nacht hier wie eine Irre durch die Gegend brüllen ...“
Ich zog nun eine Augenbraue hoch und antwortete: „Keine Sorge, im Umkreis von mehreren Meilen befindet sich keine Menschenseele. Also, was ist, schreist du jetzt, oder muss ich anfangen?“
Sie sah mich zwar immer noch reichlich ungläubig an, holte dann jedoch tief Luft. Es begann als winziger klagender Laut, den ich bei den unter uns tosenden Wellen kaum heraushören konnte. Doch dann steigerte sich der Ton rasch und auf seinem Höhepunkt wünschte ich mir, ich könnte mir einfach die Ohren zuhalten. Schließlich verebbte er und endete in einem langgezogenen Wimmern, bis Tamina schließlich zusammenbrach. Ich fing sie auf und sah, dass sie erneut Tränen in den Augen hatte. Dann setzte ich sie vorsichtig auf den Boden und setzte mich neben sie, sodass wir uns anblicken konnten. Tamina wirkte vollkommen erschöpft.
„Besser?“, fragte ich sanft und sie nickte zögerlich.
„Besser“, gab sie zurück und lächelte.
So saßen wir eine Zeit lang schweigend beisammen und blickten hinaus auf das Meer.
Immer wieder tauchten die Bilder des eben Durchlebten vor meinem inneren Auge auf. Hatten wir das überhaupt wirklich erlebt? Ich erschauderte unwillkürlich. Und dann noch Merlins Worte ...
Tamina schien sich innerlich zu sammeln und musterte mich nun kritisch. „Was ist eigentlich mit dir auf unserer Mission passiert? Du warst so seltsam, aber ich kann mich kaum erinnern und ich weiß nur noch, dass ich so total ausgetickt bin ...“
Ich seufzte und suchte nach Worten. Schließlich antwortete ich: „Ich hatte Angst.“ Ich musste die Worte quasi herauspressen, von allein hätte ich sie niemals ausgesprochen. „Nicht nur du, Tamina, hattest mit deinen eigenen Dämonen zu kämpfen.“ Ich pausierte einen Moment und blickte erneut auf das Meer. Dann fuhr ich fort: „Ich hab mich lange nicht mehr so angreifbar gefühlt. So, als ob mich der kleinste Windhauch umwehen könnte. Aber gleichzeitig hab ich mich auch so obsolet gefühlt. Eigentlich kann ich es nicht wirklich in Worte fassen. Und ich will auch nicht jammern ...“
Tamina unterbrach mich: „Ach quatsch, das ist doch kein Jammern! Du hast mich schon so oft gerettet, Arwan, um ehrlich zu sein, wäre ich auch gern für dich da. Wenn du mich lässt! Wir sind doch ein Team!“ Deutlich leiser fügte sie hinzu: „Ich kann dich nämlich irgendwie eigentlich doch relativ ein bisschen ganz gut leiden, weißt du?“ Sie holte tief Luft. „Ach verdammt. Ich mag dich. Punkt. Mach mit der Info, was du willst.“ Sie wandte den Blick ab, doch ich glaubte zu erkennen, dass sie schon wieder gegen die Tränen kämpfte.
Das brachte die Erinnerung an das merkwürdige Gespräch mit Merlin wieder hoch, noch stärker als zuvor.
Tamina spürte das offenbar, denn sie sah mich unsicher an, als sie fragte: „Gibt es da noch etwas, das ich wissen sollte?“
Ich seufzte. Dann erwiderte ich: „Merlin hat ein paar Andeutungen gemacht ... In Bezug auf dich ... Und eine Entscheidung, die du irgendwann treffen musst. Aber ich denke, das hat Zeit. Du musst dich nicht gleich entscheiden.“
Tamina blickte mich verzweifelt an, und ich sah, dass sich tatsächlich erneut Tränen in ihren Augen gesammelt hatten. „Arwan“, flüsterte sie dann, „ich habe mich schon längst entschieden. Meine Münze ist vor langer Zeit gefallen. Aber entgegen dem, was Merlin auch immer behauptet haben mag, hat das keinen Einfluss mehr auf das, was hier geschieht. Ich bin ein Opfer meiner Umstände, wie wir alle. Zumindest hab ich das mal irgendwo gelesen. Aber egal, welches Leben ich auch führen möchte, ich kann das andere nicht einfach aufgeben und nie mehr zurückblicken.“
Ich musste schlucken. „Kann ich dir irgendwie helfen?“, fragte ich dann erneut. Eigentlich eine total bescheuerte Frage angesichts der Abfuhr, die ich vorhin kassiert hatte.
Ein kritischer Blick traf mich. Eine lange Pause entstand. „Hol mich hier raus“, flüsterte meine Teampartnerin dann leise, so leise, dass selbst ich es fast nicht gehört hätte. „Mach, dass es aufhört. Mach, dass sie aufhören, bevor sie mich endgültig zerstört haben.“ Sie erhob sich langsam und auch ich stand wieder auf.
Wir standen noch eine ganze Weile an der Steilküste und blickten einfach hinaus aufs Meer. Es war ein seltsam beruhigender und aufwühlender Anblick zugleich.
„Es ist ganz schön mutig, Schwäche zuzugeben“, sagte ich schließlich, in dem Bestreben, aus dieser Unterhaltung, die ich mittlerweile selbst nicht mehr verstand, schlau zu werden.
Tamina entgegnete: „Das ist kein Mut. Das ist pure Verzweiflung. Glaub mir, wenn ich einen anderen Weg heraus aus diesem Mühlrad sehen würde, würde ich ihn gehen.“
Worüber zur Hölle redeten wir hier bitte?
„Ich würde es gern wissen. Nur einmal“, fügte Tamina nach einer Weile leise hinzu. Sie wandte sich zu mir um und sah mir direkt in die Augen.
Irritiert blickte ich zurück. „Was würdest du gern wissen?“
„Wie es sich anfühlt. Die Gedanken anderer Menschen hören zu können.“
Ich blickte sie noch einen Moment lang an, bevor ich den Blick wieder zurück auf das Meer richtete. „Wieso?“, gab ich schließlich zurück.
Tamina seufzte leise. Dann gab sie zu: „Ich bin mir nie so richtig sicher, was die Menschen um mich herum wirklich denken. Was sie von mir halten. Ob sie mich tatsächlich meinetwegen gern haben.“
„Und würde es etwas an deinen Gefühlen für sie ändern, wenn du es wüsstest?“
Daraufhin schwieg sie. Es wurde ein langes Schweigen.
„Was machen wir jetzt noch mit dem angebrochenen Abend?“, fragte Tamina schließlich in dem Bestreben, das Thema zu wechseln. „Ehrlich gesagt, könnte ich etwas Ablenkung jetzt ganz gut gebrauchen.“
Ich zuckte die Schultern. „Weiß nicht, gibt es etwas, worauf du Lust hast?“
Tamina schüttelte verneinend den Kopf.
„Wie wär’s dann mit ein bisschen Musik?“, fügte ich hinzu. Schaudernd dachte ich an die geisterhafte Musik zurück, die ich in dieser anderen Welt gehört hatte, deshalb sprach ich schnell weiter. „Das hilft mir meistens, ein wenig runterzukommen. Oder aber ...“ Ich überlegte einen Moment, dann kam mir ein aberwitziger Gedanke. Aber gut, es war Halloween, also warum denn nicht. Daher fuhr ich fort: „Oder aber ich schleiche uns auf diesen Halloween-Markt, ein paar Meilen von hier. Die machen immer an Halloween Live-Musik und veranstalten Kürbis-Schnitz-Wettbewerbe und da kommst du sicher auf andere Gedanken.“
Tamina legte den Kopf schief. Dann grinste sie. „Okay, machen wir das! Aber wir haben gar kein Kostüm ...“
Ich grinste sie schelmisch an. Das Problem ließ sich lösen.
Wenige Minuten später betraten wir – in voller Missionsklamotte – das Gelände, auf dem die Veranstaltung stattfand. Trotz der späten Stunde waren noch ziemlich viele Besucher da. Ich hatte vorher einen kleinen Zauber gewirkt, damit die bei der Einlasskontrolle nicht so genau auf Taminas Alter sahen und schwupps waren wir drin. Unsere „Verkleidung“ tat wohl sein Übriges. Meine Teampartnerin grinste mich an und ich war froh, wieder ihre warmen Augen zu sehen. Außerdem war ich offen gestanden ziemlich erleichtert, dass ich dieses gruselige Abenteuer heil überstanden hatte. Kurz bevor wir aufgebrochen waren, hatte ich darauf bestanden, mir noch einmal zögerlich mit meinem Dolch über den Arm zu fahren. Zum Glück war nichts passiert und die Erlebnisse von vorhin wirkten in der Hinsicht eher wie ein schlechter Traum. Obwohl sie das ganz sicher nicht gewesen waren. Nie wieder würde ich dieses Gefühl vergessen. Aber ich würde mich an einem anderen Tag damit befassen.
Wir liefen ein wenig über das Festgelände. Offenbar war gerade vor wenigen Minuten ein Musik-Act zu Ende gegangen. Menschen liefen durcheinander, um noch ein Getränk (es gab Kürbissaft, Kürbislimonade und Kürbisbier, passend in orangefarbenen kürbisförmigen Bechern inklusive Gruselfratze) zu bekommen oder sich einfach mal kurz die Beine zu vertreten. Plötzlich tat sich vor uns eine Lücke im Gedränge auf und ich wollte Tamina bereits darauf zu ziehen, als ich spürte, dass sie mitten in der Bewegung erstarrte und scharf einatmete.
Ich blickte sie an; sie starrte offenkundig etwas – oder genauer gesagt jemanden – in unserer Nähe an. Als ich ihrem Blick folgte, wurde mir schlagartig klar, dass dieser jemand zu Tamina zurückstarrte. „Arwan“, hauchte meine Teampartnerin, den Blick weiterhin fest auf den Unbekannten vor mir gerichtet, „siehst du den Typen da? Das ist der, der mich damals vor Jaropolk und Ke’Indra versteckt hat. Als die beiden mich über den Marktplatz gejagt haben.“ Ihre Stimme wurde noch ein wenig leiser und noch ein wenig angsterfüllter. „Der, der gesehen hat, dass ich zaubern kann.“